KREIS GIESSEN - 7.30 Uhr – Uli Klein erwartet mich. Sie ist gelernte Altenpflegerin. Seit 6 Uhr ist sie schon da. Gemeinsam mit Vanessa und Christopher ist sie damit beschäftigt, die Bewohner zu wecken, zu waschen und in den Aufenthaltsraum zu bringen. An zwei großen Tischen sitzen bereits einige Bewohner. Es ist sehr leise. Vanessa misst bei drei Bewohnern den Blutzucker. Um 8 Uhr gibt es Frühstück. Ich könnte ja schon mal Kaffee einschenken, meint Vanessa. „Möchten Sie Ihren Kaffee schwarz oder mit Milch?“ „Wie bitte?“ Ich frage noch einmal. Beim dritten Mal ist mein Mund fast an dem Ohr der Frau und ich brülle: „Kaffee mit Milch oder ohne?“ Sie lächelt mich an: „Mit Milch“ und schiebt mir mit zittriger Hand ihre Tasse entgegen. Nach und nach füllen sich beide Tische. An dem einen, so erfahre ich, sitzen die Bewohner, die noch recht eigenständig sind. An dem anderen Tisch die Demenzkranken.
7.57 Uhr – Nini kommt mit dem Frühstück. Sie arbeitet schon lange in der Küche und kennt die Bewohner sehr genau. Uli und Vanessa verteilen Medikamente. Sie haben ganz genau ein Auge darauf, ob jeder seine Medikamente einnimmt. Einige können nicht mehr alleine essen. Ich setze mich neben Hildchen, so wird sie liebevoll genannt, und helfe ihr. Sie ist schon viele Jahre im Heim. Und ihre Demenz bereits sehr weit fortgeschritten. Mit der Gabel nehme ich ein Stückchen Weißbrot und tunke es ganz kurz in den Milchkaffee. Sie öffnet schon den Mund und schwupp, ist das Bröckchen verschwunden. Gar nicht so schwer, denke ich mir. Und freue mich. So nach und nach verschwinden die kleinen Stückchen mit Marmelade oder Käse. Und Hildchen schaut mich lächelnd an. „Alles gut“, frage ich sie? Ihr Murmeln übersetze ich mit ja.
9.43 Uhr – Frau Krämer hat heute etwas länger geschlafen. „Das ist hier überhaupt kein Problem“, sagt Uli. „Wer gerne länger schläft, den lassen wir auch.“ Wir gehen in ihr Zimmer, um ihr bei der Morgentoilette zu helfen. Frau Krämer kann das nicht mehr alleine. Einlagen wechseln gehört auch dazu. Mir steigt der scharfe Geruch von Ausgeschiedenem in die Nase. Automatisch atme ich durch den Mund. Augen zu und durch, denke ich. Uli scheint das nichts auszumachen. Sie hat sich Gummihandschuhe übergestreift und ehe ich mich versehe, steht Frau Krämer aufrecht am Rollator. Zack geht es zur Toilette. Während sie ihr Geschäft verrichtet, stehen wir etwas diskret hinter der Tür und warten auf das Signal, wann sie fertig ist. Abputzen, Hände waschen. Das gehört dazu. Noch schnell beim Anziehen helfen. Kämmen und fertig. Danach geleite ich Frau Krämer über den Flur hin zum Aufenthaltsraum, wo schon ihr Frühstück bereit steht.
10.08 Uhr – Pause. Zeit für ein kurzes Zigarettenpäuschen und ein kleines Frühstück. Seit sechs Uhr sind Vanessa, Uli und Christopher nun schon damit beschäftigt, alle 24 Bewohner für den Tag herzurichten. Im Fachjargon nennt man das Grundpflege. Derweil steht für die Bewohner Singen auf dem Programm. Die Ergotherapeutin Donata Müller-Tillich hat Gesangbücher verteilt. Das erste Lied wird angestimmt. „Wir fahren in die Welt…“, „Ohne Geld“ fügt einer der männlichen Heimbewohner trocken hinzu. Und lacht dabei. „Früher“, sagt er, „haben wir auch immer gesungen.“
10.46 Uhr – Vanessa nimmt mich mit in das Zimmer von Frau Schröder. Sie ist gestürzt und es geht ihr nicht so gut. Wir klopfen an ihre Tür und treten ein. Vorsichtig helfen wir ihr aus dem Bett. Was sich als nicht ganz einfach erweist. Aber zu zweit ist das kein Problem. 11.11 Uhr – Uli ist mit Dokumentation beschäftigt. Alles, was zur Grundpflege gehört, wie waschen, Toilette, rasieren, wird in einem sogenannten Leistungsnachweis für Pflege für jeden einzelnen Bewohner genauestens aufgeschrieben. Medizinische Behandlung, Tabletten, Spritzen, Blutdruck – der medizinische Dienst, so erklärt mir Uli, guckt genau, ob auch alles dokumentiert ist. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Da gibt es ein Kommunikationsblatt für den behandelnden Arzt, ein Medikamentenblatt, ein ärztliches Verordnungsblatt, ein Blatt für Vitalwerte, wo der Blutdruck, Puls, Temperatur, Blutzucker und das Gewicht eingetragen werden. Für jeden Bewohner gibt es so einen Pflegeplan. Zwischendurch wird immer mal wieder nach jeden Einzelnen geschaut, ob er auch genug trinkt. Je älter die Leute sind, desto weniger trinken sie, sagt Uli. Dabei ist das aber sehr wichtig. Deswegen muss man den einen oder anderen immer wieder ein wenig dazu animieren.
11.30 Uhr – Mittagessen. Heute ist unten im Saal ein Festessen für Gruppe drei. Das findet immer einmal die Woche statt, jeweils mit wechselnder Besetzung. So kommt jeder der Bewohner mal in den Genuss. An einem festlich gedeckten Tisch nehmen alle Platz. Donata Müller-Tillich und David, der Betreuungsassistent, essen mit den Bewohnern gemeinsam. Es herrscht eine rege Unterhaltung. Rindfleischsuppe, Hackfleischpfanne, Püree, Kartoffeln, Gemüse und ein Dessert stehen auf der Speisekarte. Christopher verteilt noch schnell die Medikamente. „Herr Lütke?“ „Hier bei der Arbeit.“ Der ganze Tisch lacht. „Möchten Sie Kartoffeln oder Püree?“ „Ich nehme Püree, dann brauch ich nicht so viel kauen.“ „Die Frau Müller ist das beste Stück im Stall.“ Gemeint ist die Ergotherapeutin. Die freut sich sichtlich über das Kompliment. Wie gefällt den Bewohnern das Leben im Pflegeheim? „Im Heim ist immer was los“, sagt Frau Bremer. „Das Personal kümmert sich um einen, wo es nur geht.“ Das Essen scheint allen zu schmecken. Täglich wird das Essen in Lollar frisch zubereitet. Einmal die Woche kommt der Koch selbst vorbei, um zu fragen, ob alles gut war. Der Speiseplan richtet sich auch nach den Wünschen der Heimbewohner. Wie es sich für ein Festessen gehört, gibt es im Anschluss zum Dessert noch einen Kaffee. 12.40 Uhr – Zeit für ein kleines Mittagsschläfchen. Uli und Vanessa bringen einige der Bewohner in ihr Zimmer. Manch einer bleibt auch im Aufenthaltsraum und hält in einer gemütlichen Ecke sein Nickerchen ab.
13.11 Uhr – die Spätschicht ist eingetroffen. Miriam bereitet die Medikamente für den Abend vor. Uli und Vanessa dokumentieren jede kleinste Begebenheit vom Tag in den Unterlagen. Wo ist eigentliche Christopher? „Der ist am Aufräumen“, sagt Vanessa. „Seit er das Gerät zum Etikettieren gefunden hat, wird alles beschriftet, was nicht niet- und nagelfest ist.“ Uli: „Der räumt nur auf, weil er so gerne mit dem Ding hantiert.“ Marco ist in der Küche und schmiert die Brote für das Abendessen. Er ist noch Schüler, aber nicht mehr lange, wie er mir erzählt. In einem halben Jahr hofft er seinen examinierten Altenpfleger in der Tasche zu haben. War das sein Traumberuf? „Mein Vater war früher Alkoholiker, ist dann ins Wachkoma gefallen. Meine Intention damals war, die Leute helfen meinem Vater. Deswegen wollte ich später anderen helfen. Ich könnte mir auch gar nichts anderes mehr vorstellen.“ Nun will er Frau Will noch schnell wieder in ihr Zimmer bringen. Sie sitzt im Rollstuhl. Ich schiebe sie in ihr Zimmer. Marco ist kurz weg, kommt aber gleich wieder. Frau Will ist eine kleine zarte Person, sie wirkt fast zerbrechlich. Viel wiegen kann sie nicht, denke ich so bei mir. Ich schiebe den Rollstuhl so nah wie möglich ans Bett, beuge mich über sie und lege ihre Arme um meinen Hals. „Schön festhalten, Frau Will.“ „Ja.“ Macht sie auch. Ich habe mir nicht im Leben vorstellen können, wie schwer das ist. Dabei ist sie doch nur so ein Persönchen. Aber ich habe wirklich meine Mühe, sie auf das Bett zu hieven. Marco kommt rein und hilft mit, sie noch richtig ins Bett zu legen.
13.24 Uhr – kurze Besprechung im Dienstzimmer. Miriam und Marco, die Spätdienst haben, werden informiert, auf was alles zu achten ist. Einem Bewohner geht es nicht so gut. Man sollte den Hausarzt informieren. Und der Herr Schulz kann schon wieder richtig gut laufen. Ist heute allein den Flur nur mit Stock gelaufen. Vanessa: „Mit dem Traudelchen stimmt irgendetwas nicht. Lag die ganze Zeit im Bett und hat geweint. Ich hab mich mal kurz dazugelegt und habe sie ein wenig gedrückt.“ Herr Schneider liegt im Sterben. Die Bewohner sind darüber informiert. Wer möchte, kann ihn besuchen. Einer der Familienangehörigen ist auch da. Wie ist das eigentlich für die Pfleger, wenn jemand von den Bewohnern stirbt? „Im Laufe der Zeit lernt man es, damit umzugehen. Manch einen kennt man ja über zehn Jahre. Es ist schwer, aber eine gewisse Distanz muss man halten. Uns geht das nah. Und wir heulen auch mal mit. Das ist ok.“ Dennoch wird das Thema, so Uli, zu wenig bei der Ausbildung thematisiert. Aber es gibt einen Psychologen von der Vitosklinik, der einmal die Woche ins Heim kommt.
14.12 Uhr – Miriam geht mit mir zu Frau Werse. Sie will nach der Stomaplatte sehen, ob die eventuell gewechselt werden muss. Das ist so eine Art künstlicher Darmausgang. Ein Klicksystem, das wie Tupper funktioniert. Daran hängt ein Abstreifbeutel. Wenn der sich von der Haut löst, dann muss er gewechselt werden. Ein wenig Überwindung kostet es mich schon, da genau hinzusehen. Miriam zeigt es mir sehr genau. In diesem Moment hätte mir eine einfache Erklärung sehr wahrscheinlich auch gereicht.
14.36 Uhr – Marco ist damit beschäftigt, wieder alle aus ihren Zimmern zu holen. Es ist Kaffeezeit. Irgendwie dreht sich alles den ganzen Tag ums Essen. Ich gehe mit Miriam zu Frau Bader. Beim Eintreten in das Zimmer rieche ich es sofort. Frau Bader scheint ein größeres Geschäft gemacht zu haben. Miriam zieht sich sofort die Handschuhe über und schaut mal nach. Ich gehe sofort zum Schrank, wo die Einlagen liegen, immer bemüht, ja nicht zu atmen und auch nicht hinzusehen. „Holst du mir mal aus dem Bad zwei Waschlappen und ein Handtuch?“ „Ja.“ Bewaffnet mit den gewünschten Sachen stehe ich zwei Sekunden später wieder neben ihr. Miriam wäscht Frau Bader gründlich, trocknet sie ab und cremt sie noch ein wenig ein. Danach wird sie angezogen und ab geht es wieder zu den anderen. Kaffee und Kuchen warten schon.
15.27 Uhr – Die Hausärztin Dr. Verena Kurzidim kommt vorbei, um nach Traudelchen zu sehen. Vanessa, die eigentlich schon seit 14 Uhr Feierabend hat, ist immer noch da und geht mit. Zu dritt stehen wir am Bett. Traudelchen wird untersucht. Sie müsse unbedingt mal wieder aufstehen, sagt die Ärztin. „Morgen, heute möchte ich noch im Bett bleiben.“ Sie bekommt etwas verschrieben, morgen wird noch einmal nach ihr gesehen.
16.19 Uhr – Mein Dienst ist zu Ende. Ich bin kaputt. Es war anstrengend. Altenpfleger ist ein Job, für den man geschaffen sein muss. Man braucht starke Nerven. Ich ziehe den Hut vor den Mitarbeitern. Und die Einrichtung selbst? Ein bisschen wie ein Hotel mit Zimmerservice. Man klingelt, und schon fragt jemand nach den Wünschen. Aber buchen möchte ich vielleicht dann doch nicht.
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