"Musik statt Straße" feiert Jubiläum in Gießen, Lich und Annerod
Das Hilfsprojekt für notleidende bulgarische Roma-Kinder wurde vor zehn Jahren gegründet. Nun kommen die jungen Musiker für mehrere Konzerte nach Mittelhessen.
Von bj
Fotograf Rolf K. Wegst hat beeindruckende Bilder von seiner Reise nach Sliven mitgebracht. Im Rathaus werden sie ab Dienstag zu sehen sein. Foto: Wegst
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GIESSEN - Musik kann Leben verändern, davon ist Georgi Kalaidjiev überzeugt. Er selbst ist dafür das beste Beispiel. 1947 in einem Roma-Viertel der bulgarischen Stadt Sliven geboren, bekam er vom Vater mit vier Jahren eine Geige geschenkt. Kalaidjiev wurde Konzertgeiger, reiste als erfolgreicher Instrumentalist um die ganze Welt und kam schließlich als Konzertmeister zum Philharmonischen Orchester Gießen. Als er nach langer Abwesenheit erstmals wieder in das Viertel seiner Heimatstadt Sliven zurückkehrte, war er angesichts der dortigen Situation "entrüstet und entsetzt", wie er erzählt. Um der Armut und Perspektivlosigkeit der Menschen im Ghetto etwas entgegenzusetzen, gründete er zusammen mit seiner Frau Maria Hauschild das Projekt "Musik statt Straße", das zur Erfolgsgeschichte wurde und nun sein zehnjähriges Bestehen feiert.
Anlässlich des Jubiläums haben die in Annerod lebenden Initiatoren ein buntes Programm zusammengestellt, bei dem 16 Kinder und Jugendliche aus Sliven die weite Busreise nach Hessen antreten, um bei Auftritten in Gießen, Lich und Annerod zu zeigen, was sie gelernt haben (siehe Kasten). Hinzu kommt eine Fotoausstellung mit beeindruckenden Bildern von Rolf K. Wegst, die am kommenden Dienstag im Rathaus eröffnet wird.
Der Journalist und Fotograf des Stadttheaters Gießen war im Frühjahr letztmals in Sliven unterwegs, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Die Situation dort war erschreckend, wie er im Pressegespräch berichtet. Das Viertel, in dem vor allem von der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft stigmatisierte Roma leben, wird von einer meterhohen Betonmauer eingefasst. Auf engem Raum drängen sich dort bis zu 20 000 Menschen, schätzt er. "Dass so etwas in Europa noch heute möglich ist", habe er sich vor seinem ersten Besuch in Sliven nicht vorstellen können. Gleichzeitig zeigt er sich fasziniert von dem, was das Bildungsprojekt erreicht hat und von dem, "was die Musik mit den Kindern macht". So stellt Wegst für die Ausstellung im Rathaus-Atrium Bildern vom probenden Nachwuchs Szenen gegenüber, in denen die Betonmauer zu sehen ist und die dem Publikum eine Vorstellung davon vermittelt, unter welchen elenden Bedingungen die Menschen im Ghetto leben müssen. Zudem hat er anlässlich des Jubiläums ein Fotobuch überarbeitet und neu aufgelegt, in dem seine Arbeit abgebildet ist.
PROGRAMM
. Zur Feier des zehnjährigen Bestehens von "Musik statt Straße" gibt es ein umfangreiches Programm. Es beginnt am Dienstag, 13. August, um 18 Uhr im Atrium des Rathauses mit der Eröffnung der Fotoausstellung von Rolf K. Wegst. Seine Aufnahmen zeigen die Kinder in ihrem Lebensumfeld in Bulgarien. Musik kommt von Georgi Kalaidjiev. Ein Galakonzert gibt es dann am Freitag, 16. August, um 19 Uhr im Hermann-Levi-Konzertsaal mit gemeinsamen Musikstücken der Kinder von "Musik statt Straße", dem Kinderorchester der Musikschule Gießen und dem Multikulturellen Orchester Gießen. Weitere Termine sind das Eröffnungskonzert zum Tag der Kulturen 2019 am Samstag, 17. August, um 12 Uhr auf dem Berliner Platz vor der Kongresshalle Gießen. Um 19 Uhr gibt es ein Konzert der Kinder von "Musik statt Straße" und dem Multikulturellen Orchester Gießen in der Ev. Kirche Annerod. Am Sonntag, 18. August, folgt um 15 Uhr ein Konzert im Kino Traumstern in Lich mit "Musik statt Straße" und dem Jugendchor "Songlines" der Musikschule Lich. (bj)
Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz lobt beim Pressegespräch in ihrem Büro auch, mit welchem "Herzblut" Maria Hauschild und Georgi Kalaidjiev sich für die in prekären Verhältnissen lebenden Kinder einsetzen. Nachdem sie anfangs versucht hatten, die schiere Not zu lindern und Essen, Kleidung, Medizin für das Ghetto sammelten, entschieden sie sich bald, nachhaltiger zu helfen - und gründeten ihr Projekt "Musik statt Straße", das sich über Spenden und Benefizkonzerte finanziert. Die positiven Folgen des Unterrichts seien vielfältig sichtbar: Die Kinder können sich besser konzentrieren und besser lernen. Sie entwickeln ein soziales Miteinander, Hilfsbereitschaft und Empathie. Und ihnen bietet sich vielleicht sogar die Chance, irgendwann selbst als Musiker ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, zählt Maria Hauschild auf.
30 Kinder pro Jahr
Pro Jahr werden etwa 30 Kinder aufgenommen und in der klassischen Musik an verschiedenen Instrumenten oder als Sänger ausgebildet. Interesse und Begabung seien für die Aufnahme entscheidend, berichtet Georgi Kalaidjiev. Die Schüler proben mehrfach pro Woche in einer eigens umgebauten Garage, die ihnen täglich offensteht. Zur Förderung gehören Nachhilfe, Stipendien und professionelle Berufsbegleitung, ebenso wie Medizin und warme Mahlzeiten, vor allem aber "Zuwendung und Wertschätzung", betont Maria Hauschild. Und ihr Mann betont: "Es ist ein Projekt für Herz und Kopf."