Freitag,
09.08.2019 - 16:30
4 min
Propaganda am Schwanenteich

Götz Eisenberg
GIESSEN - Als ich neulich den Schwanenteich umrundete, kam mir ein eigenartiges Paar entgegen. Als die beiden an mir vorübergingen, sagte der Mann: "Wenn Sie nicht wissen, was Sie tun sollen, machen Sie einfach, womit Sie sich gut fühlen." Ein Therapeut, der mit seiner Patientin einen Gang um den Schwanenteich unternahm, dachte ich, oder ein Betreuer mit einer Klientin. Die Frau wirkte allerdings derart schwermütig, dass ich Zweifel hatte, ob sie sich bei irgendetwas wirklich gut fühlen könnte. Es war ein Ratschlag, den man getrost vergessen kann, weil er nichts nützen wird. Ein Sketch von Hanns Dieter Hüsch fiel mir ein, in dem er den Direktor einer anthroposophischen Schule spielt, der auf den Balkon tritt und die unter ihm auf dem Pausenhof versammelten Kinder mit einem Händeklatschen auffordert: "Seid ungezwungen, Kinder!"
Ein Vater ging mit seinen beiden kleinen Kindern spazieren. Er wies mit der Hand auf eine Schar Nilgänse und sagte in einem selbstsicheren Ton: "Schaut mal, da sind Enten!"
Die Großeltern kündigten ihrem vielleicht fünfjährigen Enkel an: "Wir gehen jetzt ein Eis essen. Magst du auch eins?" Und was antwortet dieses Kind? "Nein danke, ich hatte schon eins heute Mittag." Das wohlerzogene Kind einer Öko-Mittelschichtsfamilie, dachte ich. Wir früher hätten uns die Chance auf ein weiteres Eis nicht entgehen lassen.
Aus Anlass des fünften Jahrestages der Landesgartenschau wurde dieses Jahr rund um den Schwanenteich ein zwölftätiges "Gartenfest" veranstaltet. Blumenbeete wurden angeschüttet und bepflanzt, Grundschulkinder durften ihre Kunstwerke ausstellen und es fanden allerhand öffentliche alkoholische Exzesse statt, begleitet von jeder Menge musikalischem Lärm. An dem Fest beteiligte sich auch der "Förderverein Garten-Stadt Gießen", der von der lokalen Geschäftswelt gesponsert wird und dem an einem verkaufsfördernden Image der Stadt gelegen ist. Er ließ großflächige Plakatwände aufstellen, die noch immer dort zu besichtigen sind. Darauf sind sogenannte Vorher-Nachher-Fotos zu sehen, die den Gießener Bürgern, die gern um den Schwanenteich spazieren gehen, vor Augen führen sollen, welcher Segen die in der Stadt hoch umstrittene Landesgartenschau gewesen ist und welche Verbesserungen für das Stadtbild sie mit sich gebracht hat. So sieht man zum Beispiel den Bahnhofsvorplatz vor und nach seiner Modernisierung, den Rübsamensteg, die grandiose Strandbar am Neuen Teich und den als "Brutto-Netto-Tunnel" berühmt gewordenen Durchstich unter der Bahn am Ende der Dammstraße in Richtung Bootshausstraße. Damit auch wirklich jeder und jede kapiert, wie schön Gießen durch die Landesgartenschau geworden ist, greift man auf eine der simpelsten Techniken der Manipulation zurück: Die Fotos vom Zustand vorher sind schwarz-weiß, die von nachher und bunt. Der Betrachter oder die Betrachterin denkt unwillkürlich: "Mein Gott, war das vorher trist!" Das kritische Urteilsvermögen der Betrachter, das vom Digitalzeitalter eh angenagt ist, soll außer Kraft gesetzt werden, indem man die Entscheidung visuell präjudiziert. Wer würde es wagen, eine trostlose Schwarz-Weiß-Fotographie einem glänzenden Farbfoto vorzuziehen und einen Satz zu sagen, der im Zeitalter eines blindwütigen Optimierungswahns ohnehin keine gute Presse hat: "Früher war es besser."? Propagandamethoden aus dem Arsenal totalitärer Herrschaft, die in diesem Fall nicht von einer stalinistischen Nomenklatura ausgeübt wird, sondern vom Markt.
Auf dem Rückweg in die Stadt traf ich auf einen Studenten, der in sein Handy hineinsagte: "Gestern war ich mal wieder hackedicht." Dieser Stolz auf offenkundigen Schwachsinn ist mir ein Rätsel.
Das ewige Handy-Geblubber, das an meine Ohren dringt, ob ich will oder nicht. Alles ist irgendwie mindestens mega, voll geil und supercool. Das digitale Zeitalter ruiniert die Sprache und lässt die Ausdrucksmöglichkeiten verarmen. Facebook, Twitter und Co kotzen Sprache. Der semantische Hit in der Jugendsprache ist seit Jahren: "keine Ahnung". Ständig wird das in die Rede eingestreut und zeugt unbeabsichtigt von einer radikalen Ehrlichkeit.
Am Busbahnhof stand eine Gruppe von Männern zusammen. Man diskutierte über die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. "Wer so ein Zeuch red, derf sich net wunnern, wenn er erschosse wird", warf einer der Männer mittleren Alters in die Runde. "Genau, geschieht ihm ganz recht, dem Volksverräter!", ergänzte ein anderer. Ein Dritter nahm den Ball auf und sagte: "Ei, da gehörn aber noch ganz anner Leut erschosse." Nun meldete sich wieder der erste zu Wort: "Die Merkel zittert eh schon. Für die brauch mer kaa Patrone mehr verschwenne."
So etwas dringt aus den Mündern sogenannter anständiger Leute. Die Nazis sind mitten unter uns - es gibt sie nicht nur in Chemnitz, Kassel oder in Wächtersbach. Die Gefahr geht vom Zentrum aus, nicht von den Rändern.
Im Eingang zu einer Buchhandlung sagte ein Mann zu seiner Frau, mit dem Kinn auf eine Ausländerin deutend, die Passanten lautstark beschimpfte: "Wenn mer bei dene daheim sowas mache tät, würd mer erschosse. Und hier? Hier passiert gar nix!"
Für heute war meine ethnologische Neugier befriedigt und ich ging nach Hause. Ich schaltete den Fernseher ein und sah die Sendung "Kulturzeit". Seit Wochen brachte man hier eine Reihe zum 70. Jahrestag des Inkrafttretens des Grundgesetzes. "Seit 70 Jahren regelt das Grundgesetz unser Zusammenleben." Mit diesen Worten begannen jeweils die Beiträge, und jedes Mal sagte ich vor mich hin: "Schön wär's!"
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Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Eisenberg ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist.. Foto: Archiv