GIESSEN - Poesie war angesagt, als Autor Nico Bleutge zu Lesung und Gespräch beim Literarischen Zentrum Gießen (LZG) zu Gast war. Man war in die Kunsthalle gezogen und erlebte ein durchaus inspirierendes Ambiente. Und der Titel des Abends klang schon vielversprechend: "Nachts leuchten die Schiffe" heißt der neue Gedichtband - man war gespannt. Kunsthallenkuratorin Nadia Ismail begrüßte den 1972 in München geborenen Literaten und ein ansehnliches Publikum im Rahmen der aktuellen Ausstellung von Matthew Cowans "Scream of the strawbear".
Peter Reuter vom LZG-Vorstand moderierte den Abend und eröffnete das Gespräch mit dem Dichter mit einer Einführung in Mann und Werk.
"Bleutge ist einer der bekanntesten und meist beachteten Lyriker der zeitgenössischen deutschen Literatur. In seinen Arbeiten bewegt er sich in den Grenzzonen von Text, Bild und Klang. Ausgehend von Sprachteilchen und Lesefetzen entstehen Gedichte, die mit großer rhythmischer Kraft die Zeitgeschichten und Mehrdeutigkeiten zeigen, die in Sprache versteckt sind. Bildende Kunst und Literatur, die spezifische Aura der Arbeiten des neuseeländischen Künstlers Matthew Cowan und die Bildlichkeit der Lyrik Nico Bleutges, gehen in der Lesung eine Verbindung ein," schreibt das LZG. "Die Lyrikvorlesungen haben enge gewisse Sonderstellung im Programm", sagte Reuter. Sie seien nicht häufig und brächten stets "sehr intensive Leseerlebnisse und bemerkenswerte Begegnungen mit Autoren" mit sich.
Nach kurzer Erläuterung durch den Autor wird deutlich, dass er weder von Inspiration noch von Dichten oder Schöpfen spricht. Nach einer Phase der Recherche, des Kennenlernens seines Gegenstands, "baut" er seine Gedichte zusammen, was übrigens auch moderne Songschreiber sagen. Und Bleutge reimt nicht im ursprünglichen oder vielmehr überlieferten Sinn nach Gewohnheiten oder Regeln. Er unterscheidet mehrere Schichten, etwa "Container, Kindheitserfahrungen und Leseerfahrungen". Der Wunsch sei, "dass man das alles nicht so schnell merkt". Seine Texte bewegen sich eher in Richtung Prosa, obwohl sein Vortrag klar macht, dass es sich um Lyrik handelt: Er baut Spannung auf, hält sie über mehrere Zeilen - und alle Gedichte einer Reihe haben dieselbe Anzahl von Zeilen; es herrscht ein formaler Rhythmus.
Natürlich ist ein Titel wie "Nachts leuchten die Schiffe", der auf Erfahrungen am Bosporus beruht, hochpoetisch, genau wie andere Zeilen: "Das Meer schien Land und Land schien Meer zu sein" oder "Der Himmel, nach oben geträumte Tiefe" oder "Schleusen von Licht". Das ist in seiner paradoxen Formulierung womöglich eher zugänglich als übliche Lyrik. Die Idee sei, "Sprache in all ihren Möglichkeiten aufzufalten; das Schlimmste sei ihm, "einem ganz klaren Plan folgen zu müssen". Bleutge zeigt auch eine humorvolle Seite, wenn es um Drachenvater und Sohn aus einer TV-Serie geht, "Der kleine Drache Grisu", der Feuerwehrmann werden will. Sein Vater Fumé muss auf einem Anwesen Touristen erschrecken. Hier nutzt er ein anderes runderes Metrum, viel erzählerischer. Auch für das Thema "Gradierwerk", einen Salzgewinnungsbetrieb, findet Bleutge sehr poetische Worte von speziell, sagen wir, sachlicher Art. Es geht um "von Kristallen umwehte Atmung" und er findet sehr expressive Formulierungen. Eine aparte Dichterbegegnung, zweifellos, hochinteressant und intensiv.
Nico Bleutge lebt in Berlin. Bis heute sind von ihm vier Gedichtbände erschienen, zuletzt "verdecktes Gelände" (2013) und "Nachts leuchten die Schiffe" (2017), daneben das Libretto zur Oper "Wasser" von Arnulf Herrmann (2012). Seit 2001 arbeitet er zudem als freier Literaturkritiker unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den Tagesspiegel und die Neue Zürcher Zeitung. Er erhielt zahlreiche Preise.