Unser absurder Alltag: Essayist Götz Eisenberg über einen Morgen als Nummer 220 im Gesundheits-Moloch
Neulich hatte ich einen Termin in der Gießener Uni-Klinik. Wer immer dort ambulant oder stationär behandelt wird, muss durchs Nadelöhr der Zentralen Patientenaufnahme, die sich links vom Haupteingang befindet.
Götz Eisenberg
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GIESSEN - Neulich hatte ich einen Termin in der Gießener Uni-Klinik. Wer immer dort ambulant oder stationär behandelt wird, muss durchs Nadelöhr der Zentralen Patientenaufnahme, die sich links vom Haupteingang befindet. Gleich zu Beginn muss man eine Nummer ziehen und wird auf diese Weise über seinen Status im Gesundheitssystem belehrt. Obwohl ich recht früh dort war, zog ich die Nummer 220. Anschließend hat man sich in Geduld zu üben. Eine stoische Haltung ist hilfreich, das Warten zu überstehen, in meinem Fall ergänzt durch ethnologische Neugier.
Mein erster Eindruck: Es herrscht eine Atmosphäre wie in der Abflughalle eines Flughafens. Die Stuhlreihen in der Wartezone waren gut gefüllt. Dutzende Leute standen drum herum oder umkreisten sie, wie Schäferhunde eine Schafherde. Ich fand schließlich einen freien Stuhl und setzte mich. Der Stuhl ist ein typisch abendländisch-steifes Möbelstück und wird von Angehörigen anderer Kulturen eher gemieden, die den orthopädisch viel gesünderen Fersensitz bevorzugen. Auch hier sah ich Menschen in ganz verschiedenen Sitzhaltungen. Ein Mann hatte sich über mehrere freie Stühle hin ausgestreckt und zog es vor, im Liegen zu warten. Ein babylonisches Sprachengewirr umgab mich. Eine Etage tiefer in der Notaufnahme jaulte eine Maschine so laut, dass man die Aufrufe der Nummern kaum verstehen konnte. Da es ein heißer Sommertag war, waberten die Gerüche der unterschiedlichsten Deodorants durch die Luft und verdichteten sich mit allerhand menschlichen Ausdünstungen zu einer echten olfaktorischen Katastrophe.
Unruhig wippten die Beine vieler Wartender auf und ab. Ein Ehepaar geriet über das Ausfüllen eines endlos langen Fragebogens in Streit. Die Frau fragte ihren Mann, ob er nachts unruhige Beine habe. „Woher soll ich das wissen“, blaffte er zurück, „nachts versuche ich zu schlafen.“ Kinder aller Altersstufen schrien und quengelten herum. Es gibt wahrscheinlich für Kinder nichts Schlimmeres, als in einer derartigen Umgebung zum Stillsitzen und Ruhigsein verdammt zu sein. Auf dem Sitz neben mir lag ein zusammengeknülltes und sichtlich gebrauchtes Taschentuch. Noch während ich überlegte, wie ich es entfernen könnte, setzte sich ein Mann darauf.
Direkt hinter mir saß ein kleiner, vielleicht zweijähriger Junge, der in Begleitung seiner Oma hier war. Unruhig schlug er mit den Händen gegen die Rückenlehne seines Stuhls. Als die Großmutter ihn ermahnte, das nicht zu tun, begann er auf einer Keksdose herumzutrommeln. Da sah ich, dass auf dem freien Sitz neben mir ein Marienkäfer herumkrabbelte. Er kletterte die Rückenlehne hinauf. Deutlich erkennbar trug er zwei schwarze Punkte auf seinem roten Rücken. Ich wies den kleinen Jungen auf den Käfer hin. Für einen Moment gelang es mir, seine Aufmerksamkeit auf das winzige Tier zu lenken. Er betrachtete es sichtlich irritiert und rief dann laut und vernehmlich: „Kaputt machen! Mach ihn tot!“ Ich wunderte mich, dass diesem kleinen Jungen angesichts des possierlichen Käfers nichts anderes einfiel, als nach einem Kammerjäger zu rufen. In meinen Kindertagen galt der Marienkäfer als Glücksbringer und die Mädchen erblickten in der Anzahl der Punkte auf seinem Rücken einen Hinweis auf die Anzahl ihrer zukünftigen Kinder. Der Käfer lief auf der Oberkante der Lehne in meine Richtung, und ich ließ ihn auf meinen Finger krabbeln. Auf meinem Fingernagel hielt er inne, und ich beschloss, ihn hinaus ins Freie zu tragen. Da breitete er plötzlich seine Flügel aus und schwirrte davon. Inzwischen war ich über eine Stunde hier und auf der Anzeigentafel erschien die Nummer 153. Ich holte den neuen Essayband von Jonathan Franzen hervor und versuchte zu lesen.
Eine US-Studie unter College-Studenten der Smartphone-Generation weise im Vergleich zu vorangegangenen Generationen auf einen enormen Empathie-Verlust hin, las ich. Und weiter: „Dass wir uns der digitalen Technologie so begeistert unterwerfen, hat dazu geführt, dass menschliche Fähigkeiten wie Empathie und Selbstreflexion verkümmern, und die Zeit ist gekommen, uns wieder auf uns selbst zu besinnen, uns wie Erwachsene zu benehmen und die Technologie in ihre Schranken zu weisen.“ Eine Reihe weiter saß eine junge Frau, die ihren Laptop auf den Knien platziert hatte. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Smartphone, auf dem ihr Daumen in rasendem Tempo herumtippte. Darüber, wie es um ihre Empathie bestellt war, konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Irgendwann erlosch das Deckenlicht und ich musste das Lesen einstellen.
Als nach zweieinhalb Stunden endlich die Nummer 220 aufgerufen wurde, durfte ich in einer kleinen Kabine meine Versicherungskarte vorzeigen und wurde ermahnt, bis zum Ende des Monats eine Überweisung nachzureichen. Dann stieg ich in die Abteilung hinauf, mit der ich früh am Morgen einen Termin ausgemacht hatte. Eine freundliche Ärztin empfing mich bald darauf mit der Frage, ob ich denn lang hätte warten müssen. „Zwei bis drei Stunden waren es schon“, erwiderte ich, „aber ich möchte diese Zeit nicht missen. Ich bin für jeden Vormittag in der ‚Abflughalle‘ dankbar, denn sie bringt mich in jedem Fall soziologisch und philosophisch weiter.“ Sie lachte und begann mit der Untersuchung. Eine halbe Stunde später durchquerte ich die „Abflughalle“ in umgekehrter Richtung, bestieg mein Rad und fuhr nach Hause. Ich war, auch wenn der Aufenthalt meine Erfahrungen verbessert hatte, heilfroh, dass der Gesundheits-Moloch mich nicht verschlungen hatte.
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Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete jahrzehntelang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Er ist Mitinitiator des Gießener Georg-Büchner-Clubs. Eisenberg arbeitet an einer „Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“, deren dritter Band unter dem Titel „Zwischen Anarchismus und Populismus“ 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Band 1 heißt „Zwischen Amok und Alzheimer“ und enthält ein längeres Kapitel, das „Vom Gesundheitswesen zur Gesundheitswirtschaft“ heißt. Foto: Archiv