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Tatort Nordeck

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Autor Stefan G. Hoffmann geht einem Mord aus dem 19. Jahrhundert nach.

Allendorf . Reif bedeckte noch den Waldboden und überzog die kahlen Bäume hinter dem Sportplatz von Nordeck. Es ist ein frostiger Tag. Stefan G. Hoffmann wartete schon. Der Gymnasiallehrer aus Rheda-Wiedenbrück kennt sich offenbar aus. Keine Verwandtschaft oder Freunde bewegten Hoffmann, am 11. April 2012 erstmals rund 200 Kilometer nach Mittelhessen zu fahren, damit er im beschaulichen Nordeck einen Tatort und Nebenschauplätze in Augenschein nehmen kann.

Der Grund für Hoffmanns damalige Reise: Vor fast 140 Jahren geschieht in der Nacht zum 3. März 1884 ein Kapitalverbrechen. Das jüdische Ehepaar Wolf findet ihre Dienstmagd Lina Eckstein nach sechs Uhr morgens regungslos im Schlafzimmer. Johanna Wolf geb. Löwenstein, 56 Jahre, liegt auf dem Fußboden, der Schädel eingeschlagen. Sie lebt noch eine halbe Stunde.

Salomon Wolf, 69 Jahre, ist erwürgt worden. Zeugen gibt es keine, der mutmaßliche Täter entkommt aus dem Wohnhaus Rabenauer Straße 33. Schnell machen Gerüchte die Runde. Deren Urteil ist eindeutig. Es muss Konrad Hedderich, der perspektivlose Ackermann (Bauer) aus Roßberg, gewesen sein. Über Waldwege sind es gut vier Kilometer bis Nordeck.

Gewalt angedroht

Hedderich steht vor dem Privatbankrott und bei Wolf gehörig in der Kreide. Seinem Gläubiger hatte er schon Gewalt angedroht. Deswegen wollte das Ehepaar Nordeck auch verlassen, umziehen zur Familie von Tochter Franziska nach Gemünden/Westerwald.

Der mutmaßliche Mörder Hedderich taucht in den Wäldern unter, die Gendarmen suchen ihn tagelang. Der Geflohene macht sich durch sein Abtauchen verdächtig. Es kommt zur Anklage. Die Geschworenen am Landgericht Marburg sprechen ihn am 17. Oktober 1884 aus Mangel an Beweisen frei. »Er war es«, insistiert Hoffmann. Der ungesühnte Fall beschäftigt ihn neun Jahre lang.

Hoffmann hat die Zeit in eine Herkulesaufgabe investiert: Das zweibändige Sachbuch »Der Nordecker Judenmord« (800 Seiten, Edition Schwarzdruck, 72 Euro). Auslöser ist sein Germanistikstudium in Göttingen, dabei die Begegnung mit dem Werk von Friedrich Wolf. Der Arzt, Dramatiker und Kommunist wird 1888 in Neuwied am Rhein geboren.

Fußläufig sind es nur wenige Minuten vom Sportplatz hin zu seinen Wurzeln. Die Großeltern, Johanna und Salomon Wolf, ruhen auf dem jüdischen Friedhof. Angelegt etwa 1850, umgibt heute ein Stabmattenzaun auf 1500 Quadratmetern knapp 40 Grabsteine. Etliche Ruhestätten sind der Großfamilie Wolf zugeordnet. Hoffmann hat über Wolf publiziert, darunter »Der andere Wolf«. Nun bringt er die Mordnacht in Verbindung mit einem transgenerationalen Trauma. Der Autor erkennt, das Familiendrama wurde nicht aufgearbeitet und es hat Friedrich Wolfs Handeln beeinflusst.

Dienstmagd Eckstein schreckt damals auf vom Lärm unbekannter Herkunft. Sie vermutet den in der Nachbarschaft. Sie hätte sonst Tatzeugin sein können. Fingerabdrücke und DNA-Profil sind noch nicht relevant. Beim Schwurgerichtsprozess werden 60 Zeugen und drei Sachverständige gehört. Der Angeklagte legt kein Geständnis ab. Fünf Verhandlungstage reichen, dann kommt Hedderich frei. Für die Staatsanwaltschaft gibt es kein Berufungsrecht.

Draußen vor dem Landgericht gibt es für Otto Böckel kein Halten mehr. Er hatte 1882 in Romanistik promoviert, an der Universitätsbibliothek eine Stelle angenommen. Böckel sieht bestätigt, was er immer schon zu wissen glaubte: »Wucherjuden« richteten die Kleinbauern zugrunde. Sogleich stachelt er die versammelte Menschenmenge auf. Das Prozessurteil wird ihm Auslöser für sein künftiges Handeln. Den Wahlkreis Marburg-Frankenberg vertritt er von 1887 bis 1903 im deutschen Reichstag. Böckel gründet 1890 die Antisemitische Volkspartei.

Propagandistisch

Die wirtschaftlichen Probleme der bäuerlichen Bevölkerung im ausgehenden 19. Jahrhundert nutzen Leute wie Böckel propagandistisch. Man spricht heute vom Agrarantisemitismus.

Der Marburger Agitator kann damit lange Zeit punkten. 1903 verliert er den Wahlkreis. Die Raiffeisenbewegung ist mittlerweile stark genug geworden. Hoffmann betrachtet in seiner tabufreien Analyse auch das Abhängigkeitsverhältnis der Kleinbauern zu ihren jüdischen Geldverleihern. Böckel gerät vorläufig in Vergessenheit. Erst die Nationalsozialisten werden sich auf ihn und seine Thesen wieder besinnen.

Hoffmann verfolgt den Weg des Sohnes der Ermordeten, Max Wolf. Der gelernte Kaufmann und Herrenschneider verlässt Nordeck verstört, zieht zur Schwester Franziska, dann zwei Jahre nach Paris und wieder zurück. 1887 heiratet er Ida Meyer in Neuwied. Deren Vater ist Geschäftsmann für Herrenmode.

Friedrich Wolf ist das einzige Kind der Eheleute. 1953 verstarb er in Oranienburg-Lehnitz, nördlich von Berlin. Aus seiner zweiten Ehe stammt Markus Wolf (1923 bis 2006), der Leiter der Außenspionage der DDR. Er ist demnach der Urenkel von Johanna und Salomon Wolf.

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