Legende ist bald Geschichte

Nach über 150 Jahren schließt zum Monatsende der traditionsreiche »Hessischer Hof« in Steinbach endgültig seine Türen.
Fernwald (rrs). Gerade im ländlichen Raum haben Gasthöfe eine besondere Bedeutung, nicht umsonst heißt es »Die Kirche und das Wirtshaus macht ein Dorf aus«. Seit über 150 Jahren ist der »Hessischer Hof« in Steinbach nun schon Treffpunkt für alle Generationen und das älteste Gasthaus in Fernwald. Verkehrsgünstig direkt an der A 5 gelegen, deckt er mit regionaler Küche und acht Hotelzimmern ein breites Spektrum ab. In vierter Generation führt Gastwirtin Heidrun Görlach den Betrieb, aber am 30. Juni geht die Ära des Gasthauses endgültig zu Ende.
Nicht leichtgefallen
Görlach hat mit der Band »Back 2 the 80s« zum letzten Mal zum Tanz in den Mai aufgefordert, wird bald zum letzten Mal in den Zimmern die Bettdecken glatt streichen, den Zapfhahn säubern, die Tische abräumen und die Tür hinter sich schließen. »Das Wichtigste ist für mich, hier erhobenen Hauptes herauszugehen«, erklärt die 56-Jährige und blickt zurück: »Mein ganzes bisheriges Leben habe ich hier verbracht, nie bin ich umgezogen oder habe woanders gelebt. Nach 30 Jahren in der Gastronomie fühle ich mich ausgepowert. Immer auf dem Sprung, die Wochenenden durcharbeiten, abends bis tief in die Nacht schuften, feiertags was Besonderes bieten - das bleibt nicht in den Klamotten hängen.« Schon vor Corona war klar, dass sie aufhört, obwohl ihr der Entschluss nicht leicht gefallen ist. Aber ihr Sohn Yannik Leon (25) ist als Mechatroniker in der ganzen Welt unterwegs und auch ihr Bruder Heinz Horst, ein gelernter Metzgermeister, wollte den »Hof« nicht übernehmen. Verpachten war für Görlach aus Angst vor Ärger, geschuldeten Mieten oder gar Räumungsverfahren keine Option. Also hat sie den gesamten Komplex einschließlich ihrer Wohnung an zwei Fernwalder Jungs verkauft, die allerdings die Gaststätte nicht fortführen werden. »Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich umziehen an einen fremden Ort zu fremden Leuten, aber eine neue Arbeitsstelle habe ich glücklicherweise schon in Aussicht. Auch meine Arbeit für die Freien Wähler in der Gemeindevertretung und im Bau-Ausschuss werde ich natürlich nicht aufgeben«, tröstet sie sich und hofft, dass sie den Abschied vom »Hof« zwar mit ein paar Tränen, jedoch den Blick in die Zukunft gerichtet, gut übersteht.
Um 1870 erbaute Görlachs Urgroßvater, der noch nebenbei eine Landwirtschaft betrieb, den »Hessischen Hof«, der damals den Namen »Russischer Hof« trug, weil die Steine des Erdgeschosses aus dem Steinbruch Russekaut bei Usingen kamen. Später wurde der historische und heute denkmalgeschützte Saalbau errichtet, der Name im Ersten Weltkrieg in »Holländischer Hof« geändert und 1972 dann ein Hotel angebaut. Die Großeltern führten das Gasthaus weiter, wohnten später in einem Seitenflügel und nach ihrer Heirat im Jahr 1952 übernahmen schließlich die Eltern Erna (gest. 2019) und Kurt (gest. 2006) die Geschicke des »Hofs«, bevor 1992 Tochter Heidrun mit Ehemann Besitzer wurde.
Seit ihrer Scheidung und damit mehr als 20 Jahre zeichnet sie jetzt alleine für den Betrieb verantwortlich, was viel Verantwortung, auch für die bis zu vier Mitarbeiter, und vor allem eine enorme Arbeitsbelastung barg.
Ob Familienfeiern, Firmenveranstaltungen, Jubiläen oder Hochzeiten, der herrliche, mittelalterlich wirkende, holzgetäfelte Saal mit kleiner Bühne wurde gerne gebucht und brachte das meiste Geld ein. Die großen Feiern des Lebens fanden im Saal statt, die Hochzeit bei Görlachs Großeltern, die silberne bei den Eltern und die goldene schließlich bei ihr.
In den 50ern gab es Kinovorführungen im Saal, »So weit die Fü«ße tragen«, was ehedem ein wahrer Blockbuster war, in den 60ern lockten Beat-Abende die tanzbegeisterte Jugend, die Vereine führten meist mundartliche Theaterstücke auf und natürlich wurde jedes Jahr ausgiebig Fasching gefeiert.
Als erstes Gasthaus im Landkreis gab es im »Hof« Telespiel-Automaten, aber auch Tischfußball sowie Pool-Billard. Unvergessen die Band-Premiere von Schmied Loaf mit 450 Leuten im Juli 2005 oder der Besuch des Übertragungswagens des rumänischen Fernsehens mit großem Ball am Abend für die mythische Londoner Gruppe Dracula Society im Jahr 2001.
Wehmütig erinnert sich Görlach an die regelmäßigen Tango-Abende des Gießener Tangovereins und einen Tango-Marathon übers ganze Wochenende mit DJ. »Ja, das war damals eine wilde Zeit und einfach nur toll, aber heute undenkbar.«
Mit dem ersten Lockdown blieben wie überall die Gäste weg. In Folge gab es für den werktäglichen Mittagstisch ein Abholangebot, das allmählich zum Lieferservice, auch in die umliegenden Orte, ausgebaut wurde.
Den Entschluss, Ende November aufzuhören, setzte Görlach dann doch nicht um, verlängerte noch mal um ein halbes Jahr. Aber am 30. Juni fällt der Vorhang ein für alle Mal, die Legende »Hessischer Hof« ist dann Geschichte.
