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Mit dem Tod im selben Raum

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Die Schüler auf dem Weg zum ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Foto: Trus © Trus

Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Hungen waren fünf Tage in Polen unterwegs. Ihr Aufenthalt im ehemaligen Konzentrationslager hinterließ einen besonders nachhaltigen Eindruck.

Hungen (red). »Das Gelände ist ja riesig«, kam es Vincent (17) über die Lippen, nachdem das Eingangstor von Auschwitz-Birkenau passiert worden war. In der Tat machte die schiere Größe des ehemaligen Vernichtungslagers auf die meisten Schülerinnen und Schüler einen nachhaltigen Eindruck. Andere betonten in der abendlichen Gesprächsrunde den Kontrast zwischen der heutigen Idylle und der grauenvollen Geschichte des Lagergeländes.

In unmittelbarer Nähe der Wiese, auf der am Tag des Besuchs ein Reh friedlich äste, befanden sich vor 80 Jahren Baracken, in denen Tausende zumeist jüdische Menschen unter unmenschlichen Bedingungen zusammengepfercht waren. Ihre einzige Zukunftsaussicht war der Tod.

Einige von den Baracken sind noch erhalten und die Gedenkstättenmitarbeiterin Weronika geht mit der Gruppe der Gesamtschule Hungen in zwei von ihnen. Für ihre genauen Erläuterungen nimmt sie sich die Zeit, die sie braucht. Die sich rasch einstellende Beklemmung will auch später im Freien nicht mehr verschwinden.

Es sind diese und ähnliche Erfahrungen, die den Geschichtslehrer Armin Trus zum Organisieren solcher Gedenkstättenfahrten veranlassen. »Kein Quellentext, keine Fotografie im Unterricht kann das ersetzen«, so seine feste Überzeugung. Er ist froh, dass er nach längerer, vor allem durch die Pandemie bedingten Pause endlich wieder solche Fahrten anbieten kann.

In diesem Jahr umfasste seine Gruppe 21 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 10 und 11. Die Studienreferendarin Laura Schaller und die mittlerweile pensionierten Lehrkräfte Harriet Kühnemann und Reinhard Hamel waren als zusätzliche Betreuer ebenfalls mitgefahren.

Direkt nach der Ankunft und dem schnell eingenommenen Mittagessen ging es los mit einer vierstündigen Besichtigung von Auschwitz I, dem ehemaligen sogenannten Stammlager.

Auch hier wohnten die Häftlinge, so der ehemalige Auschwitz-Insasse Jean Amery, mit dem Tod nicht Tür an Tür, sondern in demselben Raum. Die Vitrinen mit den Haaren, den Brillen, den Schuhen und anderen Besitztümern zeugen sowohl vom Ausmaß der Entmenschlichung der Inhaftierten wie auch von der Verwertungsgier ihrer Peiniger. Auf einigen Fotos sind jüdische Frauen aus Ungarn mit ihren Kindern zu sehen. Kurz vor der Aufnahme waren sie an der Rampe von SS-Ärzten zur Ermordung in den Gaskammern selektiert worden.

Weronika weist darauf hin, dass auf den Gesichtern kaum Spuren von Angst zu erkennen sind. »Die Menschen wissen nicht, was sie erwartet. Sie haben noch ihre Zukunftspläne, ihre Wünsche, ihre Hoffnungen.«

Besonders augenfällig sind auf dem Gelände die Überreste der Ende 1944 von der SS zerstörten Gaskammern und Krematorien. Die Häftlinge des sogenannten Sonderkommandos mussten die zur Ermordung bestimmten Menschen nach dem Auskleiden in die Gaskammern führen.

Durch besondere Öffnungen in der Decke oder in den Wänden wurde das Blausäuregas Zyklon B in die mit mehreren hundert Menschen gefüllten Räume geschüttet. Nach etwa 20 Minuten wurden die mit einem Entlüftungssystem ausgestatteten Gaskammern geöffnet und das Sonderkommando brachte die Leichen zu den Krematorien.

Vor den Ruinen eines Krematoriums bittet Weronika eine Schülerin, eine Passage aus dem Protokoll der Befragung eines Überlebenden des Sonderkommandos vorzulesen. Lea-Sophie (16) beginnt zu lesen, doch bereits nach wenigen Worten versagt ihr die Stimme den Dienst und sie weint - die Ungeheuerlichkeit des Geschriebenen bricht sich Bahn.

Während ihres fünftägigen Aufenthalts in Polen besuchte die Hungener Gruppe auch die jüdischen Museen und Friedhöfe in Oswiecim (heutiger Name von Auschwitz), Krakau und Breslau. Ebenfalls auf dem Programm standen zwei Workshops im Archiv des Museums Auschwitz.

Ohne Förderung wäre das aufwendige Unternehmen nicht möglich gewesen, so Trus. Die Landeszentrale für politische Bildung, der Landkreis Gießen, die Ernst-Ludwig Chambré Stiftung und die Stadt Hungen hätten finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt.

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