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Der Eindruck täuscht

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Insekten sind für unser Ökosystem unverzichtbar. In diesem Jahr scheinen sich einige Populationen erholt zu haben, doch die Zukunft sieht weiterhin düster aus. Symbolfoto: dpa © DPA Deutsche Presseagentur

Kreis Gießen . Sie stören während der warmen Sommermonate beim gemeinsamen Kaffeetrinken und Kuchenessen, oder sind lästige Begleiter beim Spaziergang durch Felder, Wiesen und Wald. Für viele sind Insekten lästig, für das Ökosystem sind sie allerdings unverzichtbar. Viel war in den vergangenen Jahren vom Insektensterben zu hören. In diesem Jahr - so mag es vielen vorkommen - scheint es anders auszusehen.

Es summt und zirpt gewaltig überall im Landkreis. Doch dieses Bild täuscht, sagt der Insektenfachmann Ernst Brockmann aus Ober-Bessingen im Gespräch mit dem Gießener Anzeiger.

»Insekten reagieren durch ihre hohen Fortpflanzungsraten sehr schnell und heftig auf veränderte Lebensbedingungen, insbesondere auf das Wetter. Populationsschwankungen um das Hundertfache von Jahr zu Jahr sind normal«, erklärt der Vorsitzende der Licher Ortsgruppe des Naturschutzbundes (NABU). Er spricht deshalb von einem »Ausnahme-Sommer« und einem »unglaublich guten Jahr« für Insekten. »Doch die Situation wird sich wieder ändern.«

Die meisten Insektenarten brauchen einen klaren, deutlichen Wetterverlauf im Winter. Die »Überwinterer« sind darauf eingestellt, dass es im Winter kalt ist und es Frost gibt. Wenn es weniger kalt und dafür nass ist, sterben viele Individuen, erklärt der Experte. Arten, die keinen Frost vertragen, haben früher nicht überleben können. Wichtig sei aber das Ende des Winters. Wenn die Temperaturen steigen, nehmen die überwinternden Tiere dies wahr und werden aktiv. Wenn dann kein Blüteangebot zur Verfügung stehe, sterben diese Frühaufsteher, weiß Brockmann. Kommt es dann wieder zur längeren Kälteperioden mit Spätfrost in Verbindung mit nasskalter Witterung, verhungern die Insekten. Dieses Jahr wurde im März deutlich das Winterende eingeleitet und dann stimmte das Wetter. Die »Überwinterer« hatten keine großen Verluste und konnten gut ins Frühjahr starten. »Darum gibt es im Moment auffällig viele Insekten«, so der Licher NABU-Vorsitzende.

Indiz für viele Bürger zur Lage der Insekten ist, wie intensiv die Windschutzscheibe gereinigt werden muss. Grundsätzlich sei der Rückgang der Populationen dramatisch, weiß Brockmann. »In den 80er Jahren musste ich spätestens bei jedem Tankgang die Frontscheibe reinigen. Dieses Jahr habe ich das bisher einmal gemacht, für das vergangene Jahr erinnere ich mich gar nicht daran, die Scheiben gereinigt zu haben. Das bisschen Eiweiß von den Insekten schaffen heute der Scheibenreiniger und der Wischer. Das war früher undenkbar und das lag nicht am Reiniger, damals musste man kratzen.«

Auch die Wespen-Population nehme drastisch ab, schildert der Experte. Vor zehn bis 20 Jahren wollte man nicht mit einer Bäckereifachverkäuferin den Job tauschen, denn zwischen den süßen Backwaren tummelten sich Wespen zu hundertfach. »Ein solches Bild sieht man heute nicht mehr.«

Im vergangenen Jahr hielt der Licher NABU-Vorsitzende einen Vortrag im Naturschutzzentrum in Wetzlar. In seiner Präsentation mit dem Titel »Ausgekrabbelt - Vom Niedergang der Insektenwelt« zeigte er die Problematik des Insektensterbens auf. »Leider ist dieses Thema weder bei den Behörden noch den Naturschutzverbänden in ihrer gravierenden Bedeutung angekommen. Wenn überhaupt, wird dies synonym mit dem Klimawandel und dem damit verbundenen Artensterben gesehen«, klagt er.

Als Ursachen für das große Insektensterben sieht Brockmann vor allem die industrielle Landwirtschaft und die maßgebliche Rolle im Pestizideinsatz. »Wir brauchen eine andere Art der Landwirtschaft und der Landwirtschaftsubventionen. Der Verzicht auf Pestizide in den Gärten ist sinnvoll, aber ein Tropfen auf den heißen Stein.«

Es gibt allerdings auch Arten, die sich in diesem Jahr besonders erholt haben. Eine davon ist der gefürchtete Eichenprozessionsspinner, dessen feine Härchen bei Kontakt mit Menschen starken Ausschlag, Juckreiz, Augenreizungen, Fieber und Schwindel auslösen können. Kam die Raupenart vor einem Jahrzehnt in Mittelhessen noch gar nicht vor, hat sie sich im Vergleich zu den Vorjahren wieder erholt. »Der Eichenprozessionsspinner hat vergangenes Jahr gewaltig auf die Ohren bekommen: Es war zu kalt und zu nass für die Raupen. Die wenigen Überlebenden werden sich dieses Jahr wieder gut vermehrt haben und wenn das nächste Jahr wettermäßig passt, werden wir uns um diese Art keine Sorgen machen müssen«, erklärt der Insektenfachmann.

Doch welche Bedeutung haben Insekten für unser Ökosystem und welche Konsequenzen bringt ihr fortwährendes Sterben mit sich? Die Antwort von Brockmann fällt dabei deutlich aus: »Ohne Insekten keine Blumen, kein Obst, kein Überleben für den Menschen. Insekten sind unverzichtbar, denn alles, was eine Blüte hat, wird durch sie bestäubt.«

Bereits heute bewege sich das Insektenvorkommen im Promillebereich im Vergleich zu Mitte des vergangenen Jahrhunderts. »Der Rückgang geht weiter, wir verlieren weiter Insektenarten und als Folge dessen Pflanzenarten, die auf die Bestäubung durch die speziellen Arten angewiesen sind. Bislang ist die Menschheit damit gut zurechtgekommen. Irgendwann werden die Blüten im Apfelbaum per Hand bestäubt werden müssen, wenn man Äpfel essen will. In China wird das bereits gemacht«, erläutert Brockmann. Jedes Jahr gehe die Insektenbiomasse um 2,5 Prozent zurück. »Wir fahren auf einen Abgrund zu und wissen nicht, was passieren wird. Irgendwann ist es zu spät, die Fahrtrichtung zu ändern und abzubremsen.«

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