Fluch oder Segen?
Heimische Naturschützer sind auf Bauern im Kreis Gießen sauer, die jetzt noch Glyphosat auf ihre Felder auftragen. EU-weit ist Endes Jahres Schluss mit diesem Pflanzenschutz.
Kreis Gießen . Erst werden die Blätter gelb, dann braun, dann stirbt die ganze Pflanze ab: Ein eindeutiges Indiz für den Einsatz von Glyphosat auf den behandelten Ackerflächen. In diesem Frühjahr ist von dem Totalherbizid augenscheinlich so viel verspritzt worden, wie noch nie zuvor. Und das, obwohl das einstige »Wundermittel« heftig in Verruf geraten ist. Woran das liegt, dazu fragte der Anzeiger bei Daniel Seipp, dem Vorsitzenden des Bauernverbandes Gießen/Wetzlar/Dill, sowie bei Stephan Kannwischer, Sprecher des Nabu Horlofftal, nach.
»Durch das lange und nasse Frühjahr war eine Bodenbearbeitung bislang kaum möglich«, macht Daniel Seipp deutlich. Dadurch sei das Pflügen und Grubbern der Ackerböden viel zu schwer geworden. Denn nach dem Zwischenfruchtanbau (Winterbegrünung mit Nicht-Kulturpflanzen zum Erosionsschutz), müsse dieser entweder mechanisch oder durch Abflämmen beseitigt werden. Da biete der Einsatz von Glyphosat eine gute, bodenschonende Alternative, so der Muschenheimer Landwirt. Außerdem bringe diese pfluglose Bearbeitung oft eine erhebliche Kosten- und Zeitersparnis, denn der Dieselaufwand beim Pflügen sei sehr viel höher.
20 Zentimeter nach unten
»Gerade unsere schweren Böden mit ihrem hohem Tongehalt vertragen die Bearbeitung mit dem Pflug nicht gut«, so Seipp. Anstatt Glyphosat zu verwenden, könne der Acker zwar mehrfach gepflügt werden. Dieses Verfahren erzeuge allerdings höhere CO2-Emissionen und alle kleinen Lebewesen auf der Krume würden »einmal 20 Zentimeter unter die Erde« befördert.
Um vernünftige Erträge zu erzielen, müsse man die »Nahrungskonkurrenten« auf den Feldern in Schach halten, erklärte Seipp. Bei Getreide bekämpfe man hauptsächlich Gräser wie den Ackerfuchsschwanz, bei Braugerste den Weizen vom Vorjahr und bei der Rübe den Ehrenpreis.
Dem hält Stephan Kannwischer entgegen: »Glyphosathaltige Pflanzenschutzmittel vernichten nahezu alle Wildpflanzen und beeinflussen deshalb die Artenzusammensetzung und die Häufigkeit von Wildkräutern und Gräsern sowohl auf Äckern wie auch auf angrenzenden Flächen.« Das Ende von Glyphosat sei zwar politisch eingeläutet, dennoch halte der Nabu Horlofftal die weitere Anwendung bis zum endgültigen Aus für ökologisch fatal und bodenschädlich mit unabsehbaren Folgen.
»Wo ehemals noch 20 bis 30 Arten an Ackerkräutern zu finden waren, sind es heute meist nur noch etwa fünf bis sieben Sorten - dabei handelt es sich oft um herbizidtolerante Gräser und andere Generalisten«, rechnet der Naturschützer vor.
Die Folgen des Einsatzes von Totalherbiziden wie Glyphosat seien unübersehbar. Die Ackerbegleitflora verarme und die Insektenpopulationen gingen stetig zurück, Resistenzbildungen bei manchen Pflanzenarten seien ebenfalls zu beobachten.
Doch auch für Bestände vieler Vogel- und Fledermausarten habe der Unkrautvernichter weitreichende Konsequenzen: »Seit 1980 sind in Deutschland beispielsweise mehr als zehn Millionen Vogel-Brutpaare aus der Agrar-Kulturlandschaft verschwunden«, bedauert Kannwischer. Besonders stark betroffen seien Vogelarten, die sich von Insekten ernähren - hierzulande insbesondere Kiebitz, Rebhuhn, Grauammer und Feldlerche.
Über die Einstufung von Glyphosat als krebserregend ist eine heftige öffentliche und wissenschaftliche Debatte entbrannt. Sicher ist jedoch, dass sich Rückstände von Glyphosat im menschlichem Urin und in Muttermilch nachweisen lassen.
Bahn verzichtet auf Glyphosat
Der Einsatz von Glyphosat in Haus- und Kleingärten ist seit 2021 und ab 2024 auch EU-weit in der Landwirtschaft verboten. Die Deutsche Bahn ist schon seit Jahresbeginn komplett aus der Nutzung von Glyphosat ausgestiegen.
Auf Anfrage heißt es vom Hessischen Bauernverband: »Grundsätzlich durchlaufen alle Pflanzenschutzmittel einen langjährigen Zulassungsprozess mit Prüfungen auf europäischer Ebene.« Der Bauernverband lehne allerdings die Vorerntebehandlung von Getreide mit Glyphosat, um es zu einer schnelleren Reifung zu bringen, explizit ab. In anderer Form habe Glyphosat allerdings »teilweise seine Daseinsberechtigung«. In der Diskussion wünsche man sich eine differenzierte Betrachtung. Landwirte seien keine Umweltverschmutzer.
Unbenommen davon, appelliert der Nabu Horlofftal an Landnutzer, auf die Anwendung glyphosathaltiger Mittel zu verzichten, und an Verpächter, eine solche Landbaupraxis auf ihren Feldern nicht zuzulassen. Letztlich hätten es jedoch die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Hand, umweltfreundlich und naturverträglich erzeugte Produkte zu erwerben, so Kannwischer.