Hans-Peter Stock: Abschied ohne großes Theater

Der 58-Jährige gibt zum Jahresende sein Amt als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter auf. Am Montag wird er im Kreistag verabschiedet.
Kreis Gießen. Bei der Frage nach seinem letzten Arbeitstag muss Hans-Peter Stock nicht lange nachdenken. Das ist der 19. Dezember. Dann tagt der Kreisausschuss, die Regierung des Landkreises Gießen, der Stock sechs Jahre als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter angehörte. Der 58-Jährige hat sich bekanntlich entschieden, das Amt aufzugeben. Am Montag wird er im Kreistag verabschiedet - wenn es nach dem Freien Wähler geht, ohne großes Theater. »Ich habe darum gebeten, dass man mir die Entlassungsurkunde überreicht und ich mich dafür bedanken kann, dass ich für die Menschen im Kreis arbeiten durfte. Mir reichen zur Verabschiedung ein paar Sätze des Kreistagsvorsitzenden.« Für das Interview mit dem Anzeiger nimmt sich Stock Zeit. Eine Stunde lang geht es um eine Vielfalt an Themen: Von seiner langjährigen Mitgliedschaft in der SPD über die aktuelle Lage mit Flüchtlingen im Landkreis bis hin zu seinen Zukunftsplänen sowie »Harry & Sally«.
Wie ist die Gefühlslage wenige Tage vor dem Abschied?
Gemischt. Ich scheide ja nicht nur aus dem Wahl-Beamtenverhältnis aus. Nach etwas mehr als 41 Jahren endet mein Berufsleben offiziell. Seit 1. Januar 1989 war ich Beamter. Ich freue mich auf alles, was jetzt kommt. Da sind sicher spannende, interessante Sachen dabei.
Wann haben Sie sich zu diesem Abschied entschieden?
Die endgültige Entscheidung ist 2021 im Spätherbst gefallen, denn ich wollte auch Klarheit gegenüber der Fraktion, sodass man sich beizeiten nach einem Nachfolger umschauen kann. Nach rund 15 Jahren hauptamtlicher Tätigkeit und 41 Berufsjahren kann man sagen: ›Jetzt ist das okay‹ und auch mal was Neues machen. Das habe ich so mit meiner Lebensgefährtin und meinem Sohn besprochen.
Als Sie der Anzeiger 2018 nach einem Jahr im Amt porträtiert hat, haben Sie gesagt: »Ich werde mich mit 58 Jahren sicher nicht zu Hause hinsetzen und die Pension genießen.« Was machen Sie künftig?
Ich bin seit 24 Jahren beim Hessischen Verwaltungsschulverband in Gießen als nebenamtlicher Dozent in der Lehre tätig. Und seit 2011 bin ich an der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit in Wiesbaden. Das werde ich ausbauen. Außerdem werde ich als Betreuer für Menschen tätig sein, die nicht mehr in der Lage sind, ihre Belange zu regeln. Dann setzt das Amtsgericht einen Betreuer ein. Das mache ich mit einem Freund zusammen, der seit fünf Jahren ein Betreuungsbüro hat. Außerdem will ich im Bereich Personalentwicklung und Personalcoaching arbeiten. Da spürt man immens den Fachkräftemangel. Ich will ein Konzept entwickeln, sodass ich im übernächsten Jahr ein Angebot machen kann.
2018 haben Sie gesagt, es wäre eine kolossale Umstellung vom Bürgermeister zum Kreisbeigeordneten gewesen. Warum?
Man ist ein großes Stück weiter weg von der Bevölkerung. Klar habe ich auch Termine und treffe Menschen bei Veranstaltungen, aber als Bürgermeister ist man an allen Lebensbereichen beteiligt. Man geht zu goldenen Hochzeiten, man geht zu Geburtstagen oder zu Beerdigungen. Dazu kommt das Aufgabenportfolio. Und auch die Anzahl der Mitarbeiter. Als Bürgermeister war ich für 90, hier dann für 450 Menschen zuständig.
Welches Amt hat Ihnen besser gefallen?
Ich bin lieber näher am Volk.
Worauf in den sechs Jahren als Kreisbeigeordneter sind Sie besonders stolz?
Zum Beispiel auf die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Dass wir die Beratungsstelle »Offenes Ohr« implementiert haben oder dass es eine Ferienbetreuung für behinderte Kinder gibt. Ich bin aber auch stolz darauf, dass wir es geschafft haben, über 3000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine überwiegend privat unterzubringen. Ich hatte die Idee zur Wohnungsbörse und war sehr angenehm überrascht, dass das Telefon nicht stillstand und die Bürger ihre Hilfe angeboten haben.
Schade nur, dass viele gerne die ukrainische Mutter mit Kindern aufnehmen wollen, nicht aber den alleinstehenden Syrer.
Der oftmals aus dem gleichen Grund herkommt: Weil Putin sein Land kaputtgebombt hat.
Es ist schade, wenn bei den Info-Terminen zu den Gemeinschaftsunterkünften gefragt wird, ob wir nicht nur Ukrainer dort unterbringen können. Das tut mir weh.
Neben den temporären Gemeinschaftsunterkünften sollen ja auch feste Häuser für Flüchtlinge gebaut werden, die die Kommunen nach einigen Jahren zum Beispiel für bezahlbaren Wohnraum übernehmen. Es gab lange Diskussion in und mit den Kommunen. War das Projekt vonseiten des Kreises überdimensioniert?
Ich will nicht sagen, dass jemand etwas falsch gemacht hat. Es geht ja um etwas Nachhaltiges und man muss sich überlegen, wie die Häuser später genutzt werden. Ich weiß ja, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Das ploppt zwar beim Bürgermeister auf, aber er muss dafür beim Magistrat werben und eine Mehrheit im Parlament bekommen. Wenn die Kommunen bei den vertraglichen Grundlagen mitreden wollen, weil sie ja diejenigen sind, die die Hauptlast tragen, dann muss das geprüft werden. Da gehen ein paar Wochen ins Land.
Aber die Häuser sollten längst bezogen sein.
Das hat nicht funktioniert. Weil es viele Unbekannte gab, an die wir und die Kommunen nicht gedacht haben. Zum Beispiel haben sich Reizfragen aus dem Baurecht aufgetan oder aus dem Vertragsrecht. Ich glaube, alle Beteiligten haben ihr Bestes gegeben, aber aufgrund des Systems war das Projekt nicht schneller möglich.
Wie schätzen Sie grundsätzlich die Lage bei der Unterbringung von Flüchtlingen ein? Andere Landkreise haben bereits erklärt, dass sie keine Kapazitäten mehr haben.
Wir haben das bisher noch hinbekommen mit den Gemeinschaftsunterkünften, sodass wir keine Zelte oder Leichtbauhallen aufstellen mussten. Und es ist ein Unding, wenn andere Landkreise die Geflüchteten direkt den Kommunen zuweisen. Das ist unser Job als Landkreis und den machen wir auch weiter. Aber wenn Putin weiter die Infrastruktur zerbombt und die Energieversorgung zerstört, dann werden sicher noch mehr Menschen kommen. Und dann wäre der Landkreis irgendwann in der Situation, dass Gemeinschaftsunterkünfte und Hotels nicht mehr ausreichen. Dann müsste man tatsächlich dazu übergehen, Großeinrichtungen zu schaffen oder Bürgerhäuser und Sporthallen zu nutzen.
Themenwechsel: Warum hat Ihnen Landrätin Anita Schneider zu Beginn der Corona-Pandemie die Zuständigkeit für den entscheidenden Fachbereich Hygiene im Gesundheitsamt weggenommen?
Sie hat damals gesagt, dass sie das mit dem Katastrophenschutz und allem, was damit im Zusammenhang steht, besser koordinieren könnte.
Das gab doch sicher Ärger.
Zum einen hat sie die Befugnis, die Zuständigkeiten zu verteilen, zum anderen habe ich die Bauaufsicht bekommen. Froh war ich nicht, aber ich würde nicht sagen, dass das ein Verlust von Ansehen war. Wahrscheinlich war es eine gute Entscheidung, weil Frau Schneider personell und organisatorisch anders aufgestellt war als ich zu der Zeit.
Haben Sie dennoch über persönliche Konsequenzen nachgedacht?
Nachdem ich ein halbes Jahr Abstand davon genommen hatte, habe ich mir schon überlegt, ob ich hier noch am richtigen Arbeitsplatz bin. Ich bin auch perspektivisch davon ausgegangen, dass die Freien Wähler nach der Kommunalwahl 2021 nicht mehr Teil einer Koalition sein würden und dass ich nach einem Abwahlverfahren vorzeitig ausscheiden müsste.
Wie war das Klima mit den Kollegen im hauptamtlichen Kreisausschuss?
Wie überall, wo Menschen zusammenarbeiten, ist es auch manchmal anstrengend. Als Bürgermeister ist man allein, da verantwortet man alles, aber man muss sich auch mit niemandem abstimmen. Und wenn man übergreifend an Aufgaben arbeitet, dann ist Abstimmen auch manchmal schwierig. Aber wir haben es immer hinbekommen, dass zumindest das Ergebnis gepasst hat.
Duzen Sie sich alle?
Nein, mit Frau Schneider bin ich per Sie. Mit Christopher Lipp, Christian Zuckermann und auch mit Dr. Christiane Schmahl war ich von Anfang an per Du.
Ihr Nachfolger ist der frühere Grünberger Bürgermeister Frank Ide. Haben Sie einen Ratschlag für ihn?
Welchen Ratschlag soll ich ihm geben? Er soll das einfach so machen, wie er es für richtig hält. Er war 18 Jahre Bürgermeister, da bringt er einiges an Erfahrung mit. Er wird einen guten Job machen, davon bin ich überzeugt.
Wie sind Sie zur Politik gekommen? Ich habe gelesen, Sie waren 17 Jahre bei der SPD, bevor Sie zu den Freien Wählern gewechselt sind.
(lacht) Ich komme aus einem stark sozialdemokratisch geprägten Haus. Mein Opa war fast 50 Jahre in der SPD, mein Vater über 40 Jahre. Ich weiß noch, dass mich mein Vater als Siebenjähriger mitgenommen, da haben wir vor der Bundestagswahl 1972 für Willy Brandt Blättchen ausgetragen. Mit 17 oder 18 habe ich angefangen, mich in der SPD zu engagieren. Dass ich ausgetreten bin, hatte eher persönliche Gründe auf der Ortsvereinsebene. Irgendwann bin ich dann von einem Freien Wähler angesprochen worden, ob ich einen Vortrag zum Haushalt halten könnte. Das war dann der Haken, an dem ich hing. Ich habe bei der nächsten Wahl für das Stadtparlament und den Ortsbeirat kandidiert und bin dabei geblieben. Aktuell bin ich Fraktionsvorsitzender im Braunfelser Parlament.
Okay, mit der Politik geht es also weiter. Sie haben Pläne für die Zukunft und es gibt auch einen Hund, richtig?
Ja, den habe ich durch meine Tätigkeit als Veterinärdezernent im Tierheim gefunden. Bei einem Besuch 2020 kam ein Welpe auf mich zu, der mich angesprungen und abgeleckt hat. Das ist eine Hündin, ein Boxer-Ridgeback-Mix. Ich habe sie dann adoptiert. Mittlerweile wiegt sie 42 Kilo und ist ein Kraftpaket ohne Ende. Meine Lebensgefährtin und ich haben sie Sally genannt, denn der Hund meiner Lebensgefährtin heißt Harry - wie in dem Film »Harry & Sally«.
Hans-Peter Stock ist 58 Jahre alt, wohnt in Braunfels und ist Vater eines Sohnes. Nach dem Realschulabschluss absolvierte er ab 1981 seine Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt bei der Stadtverwaltung Braunfels. 1995 wechselte er zur Gießener Stadtverwaltung, wo er im Sozialamt tätig war. Nach Stationen im Bereich Finanzen in Rosbach und Solms wurde Stock im Mai 2008 Bürgermeister in Schöffengrund. Das Amt hatte er bis Ende 2016 inne. Dann begann seine Zeit als hauptamtlicher Kreisbeigeordneter beim Landkreis Gießen. Zu seinem Zuständigkeitsbereich gehören unter anderem die Finanzen, Soziales und Senioren, Kinder- und Jugendhilfe, das Flüchtlingswesen und das Gesundheitsamt. (vb)