Die unterschiedlichsten Typen eint die Begeisterung für kleine Männchen mit Knopf am Kopf. 30 von ihnen kamen jetzt in Launsbach zusammen, um den Stadtmeister im Tipp-Kick zu ermitteln.
Von Moritz Scheidel
Früh übt sich: Luis Tenner (7 Jahre, Ylipulli Gießen) bei seinem ersten Turnier.
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LAUNSBACH - Ein halb-schwarzes, halb-weißes, zwölfeckiges Allerlei liegt auf der Mittellinie des tiefgrünen Platzes; der zehn Zentimeter Meter kleine, rote Spieler steht press dahinter: statisch, gerade, regungslos. Plötzlich eine schwungvolle, auf Knopfdruck ausgelöste Beinbewegung. Der Mini-Fußballschuh berührt den unrunden Ball - das Netz zappelt. Versuch zwei, drei und vier folgen - alle Schüsse landen im Netz. Der Torwart fällt wie eine klemmende Bahnschranke nach rechts oder links. Die rechte Hand umschlingt einen rechteckigen, gerillten Aluminumklotz, mit dem sie die Richtung bestimmt. Wechsel.
Nun bin ich im Besitz des Allerleis. Fünf Spieler in viermal grau und einmal rot liegen zwischen der rechten Seitenauslinie und der dünnen, etwas brüchigen Holzwand. Ein Handgriff genügt: Der Ball reagiert, allerdings hoppelnd und holprig. Nun ja. Neuer Plan: Heber. Der erste fliegt hoch; so hoch, dass es gefährlich wird für Christoph Jilos Kopf und dessen Brille. Der Tipp-Kicker grinst - und lobt sogar. Gute Miene zum schlechten Spiel. Der Heber bietet gleichsam erhebende Erkenntnisse. Zum einen: Es sind jämmerliche Selbstversuche. Zum anderen - und das ist viel wichtiger: Tipp-Kick ist höchst anspruchsvoll.
Mehr als 30 Leute männlichen Geschlechts zwischen sieben und 60 Jahren stehen mit einer buckligen Körperhaltung vor einer zehn Zentimeter dicken, rustikalen Holzplatte. Der Kopf 45 Grad nach unten gerichtet. Auf den ersten Blick schaut das nicht gerade wie Hochleistungssport aus. Doch Tipp-Kick ist ein Spiel der Details. Die Handlung macht die Sache zur Disziplin höchster Qualität, nicht die Haltung.
Über der Holzplatte - von den Kickern liebevoll "Schlachtplatte" genannt - liegt ein grüner Teppich aus Filz mit weißen Markierungen. Es gibt Sechzehner, Fünfmeterraum, Mittellinie; alles, was einen Fußballplatz kennzeichnet - nur vier Eckfähnchen fehlen. Der hölzerne Klotz ist 1,30 Meter lang und 80 Zentimeter breit. Zwölf nummerierte Tische stehen geordnet in der rechten Hallenhälfte vom Halleneingang aus blickend in drei Viererreihen. Drei weitere Spielfelder ohne Nummernschild in der linken - hier kann in den Pausen geübt werden. Es findet gerade die dritte Stadtmeisterschaft des Gießener Vereins "Spieltrieb Ylipulli" im Bürgerhaus im Wettenberger Ortsteil Launsbach statt. Zehn Spiele stehen für jeden Akteur mindestens auf dem Programm, die Finalisten absolvieren gar 15.
"Es geht hier nach dem Schweizer-System", erklärt Vereins-Vorsitzender Jens Jepp, der auch teilnimmt. Heißt: "Die erste Runde wird ausgelost, dann spielen die direkt Nebeneinanderliegenden gegeneinander, also: Eins gegen Zwei, Drei gegen Vier. In die K.o-Runde kommen die ersten 16. Dort spielt derjenige mit der besten Bilanz, gegen den mit der schlechtesten," erläutert er. Und fügt ergänzend an: "Also Erster gegen 16., Zweiter gegen 15."
"In den Play-offs gibt es immer zwei Spiele," erklärt etwas später Pressesprecher Christoph Jilos. Stehe es nach Hin- und Rückspiel Unentschieden, also eins zu eins, "gibt es ein Golden-Goal." Wer hier als Erster trifft, gewinnt.
Bochumer, Niedersachen, Pfälzer sind nach Launsbach gekommen, um an diesem Turnier teilnehmen zu können. Hans-Peter Conrad ist aus der Schweiz angereist. Er trägt eine schwarze, kurze Sporthose und ein dunkelgelbes, mattes T-Shirt mit schwarzem Brustkorbring. Ein auf den ersten Blick unscheinbares Stirnband hält seine langen, schwarzen Haare geordnet. Er schaut ein bisschen aus wie Roger Federer. Für ihn und zwei seiner Landsmänner gehe es bei der Stadtmeisterschaft um nicht allzu viel. "Morgen ist Verbandsliga-Meisterschaft. Dort findet die Vorrunde statt - da wollen wir gewinnen", sagt er ehrgeizig. Stressig, anstrengend und lohnenswert - trotz der Kosten. "Ich hoffe, dass ich am Montag rechtzeitig auf der Arbeit bin", witzelt Conrad. Für ihn mache die Weiterentwicklung des Sports einen großen Teil der Faszination aus. "Das Spiel ist über 90 Jahre alt, es ist ein Duell Mann gegen Mann - und danach trinkt man einen", grinst der Schweizer.
Das Regelbuch ist im Gegensatz zu anderen Disziplinen wohltuend dünn. "Eine Halbzeit geht fünf Minuten. Der Gewinner bekommt zwei Punkte, bei Remis gibt es einen," erklärt Jepp. Es geht zuvorderst darum, mehr Tore als der Gegner zu erzielen. Damit dies gelingt, braucht es indes nicht nur genaue und geschickte Abschlüsse; auch das Farbspiel muss stimmen. Ein Spieler bekommt beispielsweise in Halbzeit eins die weiße Seite des Spielobjekts zugeordnet, der andere schwarz - mit dem Seitenwechsel tauschen die Farben. Nach jedem Kick ragt eine Hälfte auf dem verkanteten Ball nach oben: schwarz oder weiß. Schaut beispielsweise schwarz hoch, ist der Akteur in Ballbesitz, der auf diese Farbe spielt: Gelingt es einem Spieler, seine Farbe anzuspielen, bleibt er in der Offensive - gelingt es ihm nicht, gehts in die Defensive. Ein Allerlei als Überraschungsei. Wichtig: "Zweimal darf gepasst werden, der dritte Spielzug muss ein Torschuss sein", referiert Jepp. Etwas kniffliger wird es in Sachen Handspiel. Freilich nimmt in diesem Fall nicht das kleine Plastikmännchen auf dem Filz-Rasen unerlaubt Hand; sondern der Denker und Lenker der Partie - wohlgemerkt nie geflissentlich.
"Wenn der Spieler den Ball an die Hand bekommt, gibt es Elfmeter", erklärt Turnier-Mitfavorit Alexander Beck auf mehrmalige Nachfrage. "Doch Tipp-Kick ist eine faire Angelegenheit. Die Elfmeter werden meistens verschossen."
Beck sitzt etwas abgelegen vom Turniertrubel. Er hat Pause. Durchatmen. "Ich spiele seit 30 Jahren, und sehe immer wieder etwas Neues", erklärt er. Der Frankfurter mit Hang zum Perfektionismus hat ein kleines Köfferchen neben sich auf der Bank: hier hat er all seine Spieler ordentlich gesammelt - Figuren, die mitunter 250 Euro kosten. "Tipp-Kick ist für mich eine Mischung aus vielem: Tischtennis, Billard, Minigolf." Die Begeisterung Becks wirkt authentisch. Dazu bedarf es keinen Blick auf seine Vita. Zuhören reicht. Für ihn ganz toll, gleichermaßen auch knifflig: "Man ist Trainer und Spieler in einem, muss sich verschiedene Sachen überlegen - und ist demnach auch flexibel." Auf die etwas provokante Frage, ob das nicht alles Lotterie sei, reagiert er mit einem leicht grimmigen Gesichtsausdruck und nachdrücklichem: "Nein. Das Farbenlegen bekommen die Guten zwischen 80- und 90 Prozent hin", zu denen er natürlich auch zähle.
Typen mit kleinem Bierbauchansatz und zerzaustem Dreitagebart, junge Männer mit athletischer Figur und Jungs im besten Teenageralter - alle vereint die Begeisterung für Tipp-Kick. Bei diesem Sport gibt es kein Geld, keine Prämien; was zählt ist Ruhm, Prestige und Freundschaft. Im Hintergrund läuft der Countdown. Ein schrilles Signal ertönt. Zwischen den Partien gibt es Pausen von drei- bis vier Minuten. Kurz erholen, sammeln und die Rückenmuskulatur etwas lockern. Denn die Sportart gehe vehement in die Wirbelsäule sowie in den Beckenbereich, wie alle einstimmig ausführen. Die Ergebnisse der gerade absolvierten Runde werden immer neu ausgedruckt und an eine Pinnwand befestigt. Etwas weiter hängt die frisch gedruckte, aktualisierte Gesamt-Tabelle.
Michael Eggebrecht sitzt derweil auf der Bühne. Er trägt ein grünes T-Shirt mit der Aufschrift: "Ich liebe Ylipulli". Der Gießener ist in Doppelfunktion unterwegs: Als Spieler und Mit-Organisator. Seit seinem ersten Turnier im beschaulichen Tipp-Kick-Zirkel ist er dem Sport verbunden. "Man kommt mit vielen unterschiedlichen Charakteren zusammen." Das schätze er. Was vielleicht etwas fehle, sei der Videobeweis, konstatiert er humorig.