Leben mit Kompression

Jürgen Jakob aus Pohlheim hat ein Lymphödem. Früher hat er sich versteckt, heute modelt er.
Pohlheim . Als Jürgen Jakob im Januar für eine mehrwöchige Reha in Brandenburg eintrifft, kennen Mitpatienten und Mitarbeiter sein Gesicht bereits. Denn der 58-Jährige modelt für einen Hersteller von Kompressionsstrümpfen. Prospekte mit seinem Konterfei liegen auch in der Reha-Klinik aus. Der Pohlheimer streift die Strümpfe aber nicht nur für die Werbekampagnen über, sondern täglich nach dem Aufstehen - denn Jürgen Jakob lebt mit Lymphödemen. »Ohne die Kompressionsstrümpfe würden meine Beine innerhalb kürzester Zeit volllaufen und es würde drei Tage dauern, bis sie wieder abschwellen«, verdeutlicht er.
Ein Lymphödem kommt vor allem in den Armen oder Beinen vor: Die Lymphflüssigkeit staut sich in den Gliedmaßen, die dadurch anschwellen. Lymphödeme können angeboren sein (primäres Lymphödem) oder sich auch erst im Laufe des Lebens bilden (sekundäres Lymphödem).
Jürgen Jakob hat die Krankheit vermutlich von seinem Vater geerbt. Er ist 13 Jahre alt, als sie ausbricht: »Ich war in den Sommerferien bei meiner Oma auf dem Bauernhof im Weserbergland. Dann fing es an.« Er habe sich zunächst unwohl und erschöpft gefühlt, später seien Fieber und Schüttelfrost dazugekommen sowie eine Schwellung der Lymphknoten in den Leisten. »Zudem wurden beide Beine feuerrot und heiß. Das Fieber stieg auf über 40 Grad an und der gerufene Landarzt wusste sich keinen Rat bis auf das alte Hausmittel ›kalte Beinumschläge‹.«
Infektion der Haut
Was niemand wusste: Der 13-Jährige hatte ein Erysipel - eine bakterielle, meist durch Streptokokken hervorgerufene Infektion der Haut. »Damit gehört man eigentlich ins Krankenhaus«, betont der Pohlheimer. Die rote, entzündete Haut sei nach gut zwei Wochen verblasst und auch die Schwellung der Lymphknoten in den Leisten sei zurückgegangen. Aber: »Die Wassereinlagerung blieb.«
Wieder zu Hause stehen für den Teenager Arztbesuche und ein Klinikaufenthalt auf dem Programm, danach verordnet ihm der Hausarzt Kompressionsstrümpfe der Klasse II bis zum Knie. Die Schulzeit wird zum Spießrutenlauf, vor der nächsten Sportstunde - und dem Umziehen in der Gemeinschaftsumkleide - graust es ihm schon Tage vorher. »Ich habe mich oft auf der Toilette an- und ausgezogen oder versucht, meine Beine zu verstecken. Später wurde ich vom Sportunterricht befreit.«
Als 17-Jähriger ist Jürgen Jakob für neun Monate in einer lymphologischen Fachklinik im Schwarzwald und muss dafür seine Ausbildung pausieren. »Ich war mit Abstand der Jüngste in der Klinik«, erzählt der Pohlheimer. Zweimal täglich erhält er dort eine Lymphdrainage, danach werden die Beine komplett bandagiert. Außerdem gibt es für die Patienten Hintergründe zu ihrer Krankheit und Verhaltenstipps. Heilbar ist ein Lymphödem nicht. »Ich habe immer wieder nach Spezialisten gesucht. Mein Vater dagegen riet mir, es anzunehmen. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«
Nicht schmerzhaft, aber ermüdend
Im Gegensatz zu einem Lipödem, bei dem es zu einer Fettvermehrung kommt, ist das Lymphödem nicht schmerzhaft. »Aber ermüdend. Wenn ich im Seltersweg unterwegs bin, kann ich nur kleinere Abschnitte gehen, ehe ich nach einer Bank suche.« Hinzu kämen Venenschmerzen, die im Alter zunehmen.
Und nicht nur beim Spaziergang durch den Seltersweg macht sich die Schwellung in den Füßen und Beinen bemerkbar - auch der Kauf von Schuhen und Hosen ist mitunter schwierig. Gerade in jüngeren Jahren sei er unsicher gewesen und habe vermeiden wollen, dass Verkäufer die Schwellungen bemerken. »Als ich mit 18 Jahre mal Schuhe kaufen wollte, wurde mir gesagt, dass es für meine dicken Beine nichts gibt. Aber mit den Jahren hat sich das verbessert. Irgendwo findet man immer etwas, das passt.«
Weil sein Lymphödem angeboren ist, wollte der Pohlheimer eigentlich weder heiraten noch Kinder bekommen - zu groß die Sorge, dass Sohn oder Tochter später die gleichen gesundheitlichen Probleme haben könnten. Doch als er seine heutige Ehefrau kennenlernt, wächst dann doch der Kinderwunsch. Das Paar hat Glück: Es bekommt zwei Töchter. In der Familie waren bislang nur Männer von der Krankheit betroffen.
Nach einem schweren Verkehrsunfall 2011 weitet sich Jürgen Jakobs Lymphödem im linken Bein bis in den Oberschenkel aus. Fortan muss er hier zum langen Kompressionsstrumpf greifen - auch bei 38 Grad im Sommer. »Sie sind zum Glück nicht mehr so hässlich braun-beige wie früher«, sagt der Pohlheimer und lacht. »Wenn sie aus den Hosen herausschauen, sehen sie aus wie normale Socken.« Knallpink, gestreift oder mit Blumen - Auswahl gibt es mehr als genug. Manche Frau trage die Kompressionsstrümpfe sichtbar wie Leggings. »Das sorgt für deutlich mehr Lebensqualität.«
Als Gastdozent eingeladen
Als die Anfrage des Strumpfherstellers kommt, muss der 58-Jährige trotzdem über seinen Schatten springen: »Ich habe es früher nie nach außen gekehrt. Man schämt sich, dass man anders aussieht.« Außerdem habe er nicht gewollt, dass er als »der Kranke« gesehen wird, etwa in seinem beruflichen Umfeld. Inzwischen wird er sogar als Gastdozent im medizinischen Bereich eingeladen, um etwa in Sanitätsfachgeschäften oder auf Messen über die Krankheit zu sprechen. Hin und wieder reist der Pohlheimer zu einem Fotoshooting nach München, Bayreuth oder Hamburg und präsentiert die Kompressionsstrümpfe für einen namhaften Hersteller.
Und während er als Teenager noch versucht hat, seine Kompressionsstrümpfe zu verstecken, zeigt er sie heute selbstbewusst in den sozialen Medien, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen. Seinen Instagram-Account nutzt Jürgen Jakob, um sich mit Betroffenen und Gleichgesinnten auszutauschen. »Ich verstecke mich nicht mehr und habe durch das Modeln den Mut bekommen, zu meiner Krankheit zu stehen.« Der Pohlheimer hofft, dass auch andere Männer künftig offener mit ihrem Lymphödem umgehen - denn noch seien es vor allem deren Partnerinnen, die ihn online um Rat fragen.