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»Papa, hierbleiben«

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Deutschland im Juni 1948: Die Zerstörungen des Krieges sind noch überall sichtbar. Und viele Menschen sind auf der Suche: Nach ihrer alten Heimat - oder nach einer neuen. Sie suchen nach ihren Familien, nach Arbeit und Nahrung. Und sie suchen nach einer Perspektive. Viele Männer sind noch in Kriegsgefangenschaft. Auch der Großvater von Anja Zimmer, einer Autorin und Verlegerin aus Laubach-Lauter, ist noch nicht zu Hause.

Er heißt Otto Tröller, in ihrem neuen Buch »Hoffnung aus Papier« nennt sie ihn Reinhard Volp, und seine Frau Emilie wird Anna genannt. Das Dorf Lauter hat im Buch den Namen Klarenbach. Die Geschichte, die Anja Zimmer im Buch erzählt, hat ein Happy End, aber kein strahlendes. Nicht alles ist am Ende gut. Vieles bleibt dunkel und schmerzhaft.

Anja Zimmers Erzählung beginnt im Hof der Familie Volp. Es ist eine Szene, die einem das Herz zerreißt, und sie endet mit einem bittersüßen Versprechen. Klarenbach (Lauter), Anfang März 1944. Reinhard Volp muss nach einem Heimaturlaub zurück in den Krieg. »Ich schreibe dir!« Annas Stimme war tränenschwer, sie drückte ihre kleine Tochter noch fester an sich und Reinhard brachte nur ein Nicken zustande. ... »Und du passt mir schön auf die Mama auf, Ingi!« Er streichelte ihre Wange. »Papa, hierbleiben«, sagte sie und streckte ihre Ärmchen nach ihm aus. »Das geht nicht!« »Warum?«

Reinhard rang nach Atem. Warum? Die Wahrheit konnte er einem zweijährigen Kind nicht erklären. Wie alles, was erwachsener Wahnsinn treibt, einem Kind nicht erklärbar ist. »Auf Wiedersehen!«, flüsterte er eindringlich und versuchte dabei vergeblich, in Annas Augen zu schauen. »Versprich mir, dass es ein Wiedersehen geben wird«, erwiderte Anna ebenso leise, »und dann für immer. Noch einmal kann und will ich dich nicht hergeben. ... Wie lange wird dieser grauenhafte Krieg denn noch dauern?« Anna schaute ihn beschwörend an. »Ich versprech euch, dass wir uns wiedersehen. Ob es dann für immer sein wird, kann ich noch nicht versprechen, aber irgendwann wird dieser Krieg zu Ende sein, und dann werde ich hierbleiben können. Im Frieden.«

Ein sehr langes Zitat. Ja, aber diese Szene ist so prägnant, so präzise und eindringlich beschrieben, dass man sich schon mittendrin fühlt in einer teils dramatischen Geschichte über eine große Liebe, über Sehnsucht, Leid und Trennungsschmerz. Dass das Buch gerade jetzt veröffentlicht wird, hat einen guten Grund: Am späten Abend des 10. Juni 1948, also vor genau 74 Jahren, kehrte Otto Tröller zurück in sein Heimatdorf..

Anja Zimmer erzählt: »Er kam spät abends, wie meine Oma es sich gewünscht hatte. Sie wollte ihn dann nämlich ganz für sich alleine haben, ohne dass das ganze Dorf dabei steht. Das war damals nämlich üblich, dass Heimkehrer am Dorfrand begrüßt und in einem immer größer werdenden Zug nach Hause gebracht wurden.«

Wir haben Anja Zimmer befragt, wie das Buch zustande kam. Und was wahr ist - und was Fiktion.

Frau Zimmer, woher haben Sie all die Details in Ihrem Roman?

Die Geschichte von Reinhard und Anna Volp ist die Geschichte meiner Großeltern. Grundlage dafür waren alle Briefe, die sich meine Großeltern geschrieben haben, während mein Opa im Krieg und in Gefangenschaft war. Mein Opa konnte fast alle Briefe über die schlimme Zeit retten, die meine Oma ihm geschrieben hat. Er hat nicht nur die Briefe gerettet, die Briefe haben sicher auch ihn gerettet.

Was ist das Besondere an diesen Briefen?

Die beiden haben sich sehr geliebt und es ist für mich auch etwas sehr Besonderes, meine Großeltern in diesen Briefen als Liebespaar zu erleben. Ein paar Briefe zitiere ich auch wörtlich in dem Buch. Einen dieser Briefe hat mein Opa mit »es grüßt und küsst Dich tausendmal und drückt Dich sehr fest Dein sich sehr nach Dir sehnender und auf ewig treuer Otto« beendet.

Was war ihr Großvater von Beruf?

Mein Opa war Schreinermeister und hat als Meisterstück ein Schlafzimmer gebaut. Mein Mann Frank und ich schlafen heute in den Betten, in denen meine Großeltern schon geschlafen haben. Und es war für mich wiederum etwas sehr Besonderes und Berührendes, die Briefe meiner Oma im Bett zu lesen (ich lese gerne im Bett) und dann zu lesen, dass sie diese Briefe im Bett geschrieben hat. Einmal hat sie nämlich einen Strich quer über die Zeilen gemacht und hat als Erklärung dazugeschrieben, dass meine Mutter, die als kleines Mädchen neben ihr geschlafen hat, sehr unruhig war und sie im Schlaf geschubst hat.

Aber die Briefe allein sind es ja nicht. Sie erzählen eine Geschichte mit vielen Facetten …

Diese sehnsuchtsvollen Briefe, mit denen sich die beiden gegenseitig getragen haben, brachten mich auf die Frage: Was passiert, wenn solche Briefe plötzlich ausbleiben? Durch Tod, zu lange Trennung und Entfremdung, Traumata etc.? Um Antworten auf diese Frage zu finden, habe ich meinem Opa einen erfundenen Freund an die Seite gegeben. Sein Name ist Paul Schäfer. Die beiden sind Nachbarn. Paul hat sich in ein Mädchen namens Meta verliebt, sich sogar mit ihr verlobt, aber das Interesse ist sehr einseitig.

Das Buch passt auch (leider) gut in unsere Zeit - oder?

Ja, der Roman ist sehr aktuell. Es geht nämlich nicht nur um den Krieg, sondern auch um die Flüchtlinge, die aus den Ostgebieten in den Westen kamen. Was ich hier für mein Elternhaus beschreibe, ist auch alles so oder so ähnlich passiert. Es kam tatsächlich eine Familie Fuchs nach Lauter. Diese Familie stammte aus der Prager Oberschicht und kam nun in diese sehr kleinen und bescheidenen Verhältnisse meines Elternhauses. Aber meine Oma und Frau Fuchs haben sich sehr gut angefreundet und sind auch bis zum Lebensende meiner Oma enge Freundinnen geblieben.

Haben Sie selbst auch noch eine Erinnerung an Frau Fuchs?

O ja, ich habe Frau Fuchs noch kennengelernt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie beeindruckt ich war von ihrer mondänen Erscheinung. Sie war sehr couragiert und hat meiner Oma oft den Rücken gestärkt gegen die Schwiegermutter. Sie war zwar eine richtig feine Dame, konnte aber auch sehr unkonventionell sein.

Warum haben Sie den Namen des Dorfes geändert?

Den Namen Lauter habe ich in Klarenbach geändert, um mehr Distanz zu den realen Personen im Dorf zu schaffen. Nicht alle Leute in Klarenbach sind freundlich, und ich will vermeiden, dass die Leute überlegen, wer das sein könnte. Da gibt es keine Entsprechungen, außer in meiner eigenen Familie.

Leicht gemacht hat man es ihren Großeltern ja nicht immer - oder?

Meine Großeltern Otto und Emilie Tröller (im Buch Reinhard und Anna Volp) gingen tatsächlich zehn Jahre miteinander, bevor sie endlich geheiratet haben. Die Mutter meines Opas war strikt gegen die Hochzeit, weil meine Oma ein »armes Mädchen« war. Dass meine Oma mit ihrer Klugheit und Herzenswärme einen viel besseren und wichtigeren Reichtum besaß als Äcker und Porzellan, konnte meine Uroma leider nicht anerkennen. Das galt bei ihr nichts. Mein Opa hat sich auch im hohen Alter noch immer gewundert, dass seine Mutter meine Oma zeitlebens abgelehnt hat. »Eine bessere Frau hätte ich doch gar nicht kriegen können als mein Milchen«, hat er oft gesagt.

Wie sind denn die Daten einzuordnen, die Sie im Buch erwähnen?

Sind fast alle real. Auch dass sie nach ihrer Hochzeit an Weihnachten 1939 nur noch wenige Monaten miteinander hatten, bis mein Opa in die Kaserne musste, ist leider genau so passiert. Damals hieß es, sie müssten nur eine Übung mitmachen und wären in acht Wochen wieder zu Hause. Allein diese acht Wochen erschienen den beiden damals unendlich lange. Und sie mussten acht Jahre warten, bis mein Opa endlich wieder ganz zu Hause bleiben konnte. Ebenso real sind die wenigen Urlaube, die Ungewissheit und Sehnsucht, die ich hier schildere. Die lange Zeit der Trennung muss für die beiden schrecklich schwer gewesen sein. Einige der Briefe, die ich hier eingefügt habe, habe ich tatsächlich so vorgefunden und in Auszügen wörtlich übernommen.

Das Buch endet im Jahr 1948. Wie ging es denn weiter?

Meinem Opa war noch ein sehr langes Leben geschenkt. Bei der Arbeit hat er immer gepfiffen und Spinnstubenlieder gesungen. Leider musste er meine Oma viel zu früh hergeben. Nach ihrem Tod hat er viele Jahre stumm gearbeitet. Er wurde 90 Jahre alt, hat in seiner Werkstatt gearbeitet und war sportlich bis zuletzt.

Wie hat Ihr Großvater das alles verarbeitet?

Wir waren viel unterwegs in den Feldern und Wäldern um unseren Heimatort und immer, wenn der Schornstein der Tuchfabrik von weitem sichtbar war, schaute er ihn lange und unverwandt an. Er hat mir oft die Geschichte seiner Flucht kurz vor Kriegsende erzählt und wie grausam schwer es ihm gefallen war, an seinem Feld und seinem Dorf vorbeizulaufen, ohne zu wissen, wie es seiner Frau und seiner Tochter ging. Und ohne zu wissen, ob und wann er jemals wieder heimkehren würde.

Der Schornstein wurde noch zu Lebzeiten meines Opas gesprengt. Das hat ihn ziemlich beschäftigt. Er hat ihn vermisst wie eine alte Wegmarke in der Landschaft, aber auch in seinem Leben.

Anja Zimmer: »Hoffnung aus Papier« - ein Nachkriegsroman über Liebe, Freundschaft und Hoffnung; Verlag Frauenzimmer; ISBN 978-3-937013-65-7; 14 Euro; 343 Seiten.

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Emilie und Otto Tröller mit Tochter Inge. Foto: privat © privat
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Anja Zimmer Autorin © Red

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