»Willst Du mich hauen oder stechen?«

Im Prozess um den tödlichen Streit über einen Drohnenflug attestiert der psychiatrische Gutachter dem Angeklagten verminderte Schuldfähigkeit.
Wettenberg. (vb). Was ist an dem Nachmittag des 29. August 2020 unterhalb von Burg Gleiberg wirklich passiert? Von wem ging die Aggressivität beim Streit über einen Drohnenflug aus? In bislang fünf Verhandlungstagen versucht die Schwurgerichtskammer unter der Vorsitzenden Richterin Regine Enders-Kunze, aufzuklären, welche Umstände zum Messerstich führten, in dessen Folge ein 55-jähriger Wettenberger starb. Angeklagt ist ein 71-jähriger Mann aus dem Vogelsbergkreis, ein ehemaliger Polizeibeamter. Er argumentiert, in Notwehr gehandelt zu haben. Der Streit sei von einem 64-jährigen Wettenberger ausgegangen, der auch zuerst zugeschlagen habe. Dieser Mann sagte gestern mehr als zweieinhalb Stunden lang aus. In seiner Version war der Angeklagte der Aggressor.
Der Mann und das spätere Opfer arbeiteten an einem Brunnenhäuschen, als sie die Drohne bemerkten. Ein Jahr zuvor seien seine Pferde auf der Koppel durch eine niedrig fliegende Drohne aufgeschreckt worden. »Dieses Geräusch wie ein Wespenschwarm macht die Tiere nervös«, erklärte der 64-Jährige. Trotz starker Probleme mit einem seiner Knie - zwei Tage später stand eine Operation an - sei er zum »Neuen Weg« gegangen und habe die zwei Männer aufgefordert, die Drohne nicht über die Koppel fliegen zu lassen. Der Angeklagte habe auf seine Genehmigung des Gleiberg-Vereins verwiesen, die aber nicht das Überfliegen privater Grundstücke abdeckte.
Diskussion wurde »immer harscher«
Der Zeuge beschrieb, dass die Diskussion »immer harscher« geworden seien. »Willst Du mich hauen oder stechen? Ich habe ein Messer dabei«, habe der Angeklagte gesagt und ihm daraufhin ein schwarzes Messer gezeigt. Der Wettenberger berichtete, auch sein Messer gezeigt zu haben. Dann habe er sich aber weggedreht, um die Situation aus ein paar Metern Entfernung zu fotografieren, während sich der Angeklagte mit der Drohne beschäftigte.
Der Begleiter des Angeklagten habe dies bemerkt, woraufhin der 71-Jährige auf ihn zugestürzt sei, um das Handy wegzuschlagen. »Ich habe gleich einen Schlag ins Gesicht bekommen und einen Tritt gegen das Bein«, schilderte der Wettenberger. Er sei auf die Knie gefallen, habe dann einen Tritt oder Schlag in die Seite bekommen und sei umgefallen. Der Angeklagte habe auf ihn eingeschlagen, er habe versucht zu strampeln und den Vogelsberger wegzustoßen, habe aber nicht aufstehen können. Die Richterin fragte, ob er selbst zugeschlagen hat. »Ich habe es versucht, aber weiß nicht, ob ich getroffen habe.«
Wie es zum Messerstich kam, will der Zeuge nicht gesehen haben, weil er mit dem Rücken zu dieser Situation gelegen habe. Er sprach von einem »Klatschen« und dann habe sein Freund gesagt: »Der hat mich gestochen«. Der Vogelsberger sei mit dem Messer in der Hand an ihm vorbeigegangen. Er habe dann aufstehen können, sei zu seinem Freund gegangen und habe den Notruf abgesetzt.
Die Richterin hielt dem Wettenberger vor, dass der Angeklagte den Verlauf anders geschildert hat. Demnach habe der 64-Jährige zuerst geschlagen und vor dem tödlichen Messerstich sei er von dem 55-Jährigen ins Gesicht getreten worden. »So extrem hat sich das nicht zugetragen«, lautete die Antwort.
Der Punkt, dass der verbale Streit kurz endete, und dass der Wettenberger die Situation fotografierte, sorgte bei der Richterin und Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger für Erstaunen. Ein Foto in der Akte, das der Zeuge während seiner Vernehmung bei der Polizei an die ermittelnden Beamten versandte, zeigte nämlich die Situation nach dem Messerstich. Der Mann will aber drei weitere Fotos verschickt haben. »Ich glaube nicht, dass Sie uns bewusst anlügen, aber wir müssen diesen Sachverhalt aufklären«, appellierte der Oberstaatsanwalt. Der 64-Jährige erklärte später, er wisse nicht, wo die Fotos seien.
Schwarzes Tantomesser
Enders-Kunze wies darauf hin, dass der Zeuge in der polizeilichen Vernehmung auch nicht gesagt habe, dass der Angeklagte sein Messer gezeigt habe. »Das ging alles so schnell«, meinte der Mann, um später zu berichten, es habe sich um ein sogenanntes Tantomesser, schwarz mit schwarzer Klinge, gehandelt. Da die Tatwaffe weiterhin verschwunden ist, hatte der Anwalt des Angeklagten Vergleichsmesser vorgelegt. Der Wettenberger bestritt, dass es sich dabei um das Messer am Tatort gehandelt habe.
Auf Nachfrage von Hauburger berichtete der Zeuge von seiner Freundschaft mit dem Opfer. Dieser sei ein »sehr ruhiger Mensch« gewesen, der die Arbeit am Brunnenhäuschen als Ausgleich zu seiner Berufstätigkeit im Wachdienst in einem psychiatrischen Krankenhaus gesehen habe,
Opfer verblutete
Die Witwe, die als Nebenklägerin an dem Verfahren beteiligt ist, verließ den Saal, bevor der rechtsmedizinische Gutachter Dr. Gerhard Kernbach-Wighton aussagte. Laut Obduktionsergebnis erlitt der 55-Jährige bei dem Stich Verletzungen der rechten Herzkammer, der linken Zwerchfellkuppel und des linken Leberlappens. Der Mann verblutete. Kernbach-Wighton sprach von einem zehn bis elf Zentimeter langen und circa 2,2 Zentimeter breiten Stichkanal. Dieser könne, weil durch den Einstich weiches Gewebe komprimiert werde, auch von einer kürzeren Klinge erzeugt werden. Der Kraftaufwand beim Stich sei »mäßig« gewesen.
Nicht abschließend geklärt werden konnte, wie es zu Blutungen des Dickdarms beim Opfer gekommen war, so dass ein Teil des Organs während der Notoperation entfernt werden musste. Höchstwahrscheinlich seien die Blutungen eine Folge der Reanimation. Der Gutachter beschrieb weitere Verletzungen des Opfers im Gesicht und den Füßen, die von stumpfer Gewalt herrührten. An den Händen habe es keine Verletzungen gegeben.
Kernbach-Wighton informierte auch über die Verletzungen des 64-Jährigen und des Angeklagten. Letzterer hatte unter anderem eine Schädelprellung, ein blaues Auge und eine Unterkieferprellung. Die linke Gesichtshälfte sei rot und geschwollen gewesen. Ursache könnten Faustschläge, aber auch Tritte gewesen sein. Frank Richtberg, der Anwalt des Angeklagten,. wollte wissen, wie gefährlich ein Tritt gegen den Kopf sei. »Das bedeutet akute Lebensgefahr, dadurch können Blutungen ausgelöst werden«, antwortete der Rechtsmediziner. Interessant: Während beim Angeklagten und beim 64-Jährigen kein Alkohol im Blut festgestellt wurde, ergab die Messung beim Opfer einen Wert von 0,55 Promille.
Letzter Zeuge des Tages war der psychiatrische Gutachter Dr. Jens Ulferts. Er hatte sich Anfang Juni ausführlich mit dem Angeklagten unterhalten. Der Vorfall sei ein traumatisches Erlebnis gewesen. Ulferts bescheinigte dem 71-Jährigen eine verminderte Schuldfähigkeit. Die Tat sei im Affekt geschehen.
Das Verfahren wird in der kommenden Woche fortgesetzt.