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»Wir wollen Respekt«

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Gemeinsames Lied mit (von links) Torsten Knoll, Germaine Sollberger, Stephan Hirschpointner, Izabella Radic, Levent Kelleli und Zelal Kapcik. Foto: Daniel Regel © Daniel Regel

»Vergissmeinnicht«: Stadttheater Gießen erinnert mit Liederabend an die Opfer rechter und rassistischer Gewalt

Gießen . »Mein Cousin war ein ruhiger Typ. Er hörte gern Musik und spielte Fußball. Er war ein freundlicher Mensch und war gern mit der Familie zusammen.« So zitierte Izabella Radic, Schauspielerin am Stadttheater Gießen, einen Hinterbliebenen von Sahin Calisir, der am 27. Dezember 1992 Opfer rechtsextremer Gewalt wurde. Ein trauriges Beispiel von vielen anderen, an die das Stadttheater Gießen am Samstag mit dem Liederabend »Vergissmeinnicht« dachte. Kein zufälliges Datum: Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven getötet. Zu diesem Anlass präsentierte die Regisseurin Ayse Güvendiren mit sechs Schauspielern und Schauspielerinnen einen hoch emotionalen und würdigen Liederabend mit Songs in türkischer, englischer und deutscher Sprache.

Intendantin Simone Sterr hatte in einem Grußwort an die Erdbebenkatastrophe erinnert: »Unsere Gedanken und unser aufrichtiges Beileid sind in diesen Tagen bei den Opfern des Erdbebenunglücks in der Türkei und in Syrien. Auch unsere Mitarbeitenden und mit uns verbundene Künstler:innen sind betroffen. Ihnen allen gilt unser liebevolles Gedenken«. Damit knüpfte sie an den Abend der Erinnerungskultur an: »Vor drei Jahren erschütterte der Anschlag von Hanau dieses Land. Keine Naturkatastrophe, sondern eine widerwärtige menschenverachtende rechtsextremistische Gewalttat.«

Mit zwölf Liedern, mit Texten und Grußbotschaften der Angehörigen, per Video auf die Bühne übertragen, gedachte das Stadttheater der Opfer dieser Verbrechen. Schon mit ihrem ersten Lied traf Izabella Radic die Gefühle des Publikums. Ihre klare Stimme wurde hervorragend ergänzt durch die virtuose Klavierbegleitung von Torsten Knoll. Der studierte Jazzmusiker ist unter anderem als Theaterkomponist an diversen Bühnen in Deutschland unterwegs und war nun als Gast auch beim Stadttheater im Einsatz. Unterstützt wurde er von den Sängern und Sängerinnen auf Gitarre und Cajon: Ein multikultureller Erinnerungsabend im besten Sinn des Wortes!

Orientalische Klänge dann beim folgenden Instrumentalstück, bei dem neben Torsten Knoll noch Zelal Kapzik an der Saz und Germaine Sollberger am E-Bass zu hören waren.

»Die Keupstraße ist überall« lautete das Motto zu dem folgenden Song, an dem sich alle Mitwirkenden beteiligten: David Gaviria, Stephan Hirschpointner, Zelal Kapcik, Levent Kelleli, Izabella Radic und Germaine Sollberger zeigten sich sprachlich und musikalisch in Hochform. Der sehr poetische und bilderreiche Text des Liedes in türkischer Sprache wurde per Untertitel auch auf Deutsch präsentiert. Gewissermaßen eine »Übersetzung« der orientalischen Klänge für westlich geschulte Ohren gelang dem Pianisten Torsten Knoll mit seiner jazzigen virtuosen Interpretation.

Den Song »No more« hatte der 14-jährige Guiliano Kollmann besonders gern gehört. Er kam 2016 bei dem rechtsextremen Anschlag in einem Münchner Einkaufszentrum ums Leben. An ihn erinnerten David Gaviria und Levent Kelleli in einem ergreifenden Vortrag. Das sind nur einige Beispiele. Regisseurin Ayse Güvendiren hatte bei den Familien der Opfer nach Liedern gefragt, die ihnen in der Trauerbewältigung gut getan haben, die auch schöne Erinnerungen wecken konnten. So kamen zwölf Songs zusammen, vom Gute-Nacht-Lied, das eine Mutter ihrem getöteten Sohn als Kleinkind vorsang, bis zu einem Wunschtitel der jüdischen Gemeinde in Halle.

Drei Auftritte des Rappers Kutlu Yurtseven brachten mit Hip-Hop-Musik ganz andere Klänge ins Programm. Yurtseven ist als Gastarbeiterkind in Köln aufgewachsen. Mit Schulfreunden aus anderen Gastarbeiterfamilien begann er zu rappen. »Wir wollen keinen Dank, wir wollen Respekt, verdammt noch mal«, rappte er in Gießen. In einem Song geht es um den Nagelbomben-Anschlag des rechtsradikalen NSU auf die Kölner Keupstraße und die Folgen für Opfer und Bewohner. Yurtseven wohnte in der Nähe, als die Bombe explodierte. Seine Kinder Kerim Can und Sinem Esma rezitierten in Erinnerung an die Opfer aus dem Koran.

Viele Angehörige der Opfer kamen zu diesem Erinnerungsabend, die Künstlerinnen und Künstler hießen sie zum Abschluss auf der Bühne willkommen. Langanhaltender Applaus des Publikums. Viele bedauerten, dass dieser bewegende und auch aufwendig produzierte Liederabend nicht wiederholt wird.

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