»Wollte selbstbestimmt gehen«

Bernd Wieczorek verabschiedet sich nach 18 Jahren als Bürgermeister in Lollar
Lollar . »Ich bin nicht politisch motiviert, sondern am Gemeinwohl orientiert« - das hatte Dr. Bernd Wieczorek 2004 im Gespräch mit dem Anzeiger klar gestellt. Nach 18 Jahren als Bürgermeister der Stadt Lollar scheidet er nun zum 31. Dezember aus dem Amt aus, einen Tag vorher, am 30. Dezember, feiert er seinen 65. Geburtstag. Wieczorek schmunzelt: »Ich wollte selbstbestimmt gehen, nicht mit 70 noch am Amt hängen.«
Er ist eher der unaufgeregte Typ, kein Polterer, sondern einer, der das Gespräch, die gemeinsame Basis sucht. Mit dieser Art hat er wohl auch die nicht ganz so einfachen Anfänge gemeistert. Nachdem ein Abwahlverfahren gegen seinen Amtsvorgänger Gerd Bocks im April 2002 gescheitert war und mit dem Rücktritt zahlreicher Parteienvertreter im Lollarer Stadtparlament endete, waren die Nachwehen sicherlich noch zum Amtsantritt des neuen Bürgermeisters spürbar. Hinzu kam, dass einzig die Grünen den parteilosen Wieczorek im Wahlkampf 2004 unterstützt hatten.
Doch wie kam es, dass er für das Amt des Bürgermeisters in Lollar antrat? »Eigentlich seit Anfang der 1990er Jahre die Direktwahl eingeführt wurde, habe ich immer mal wieder im Auge gehabt, zu kandidieren«, beschreibt Wieczorek den zunächst vagen Gedanken. Kommunalpolitisch engagiert hatte er sich schon im Ortsbeirat Odenhausen, trat später aus der SPD aus und zog sich erst einmal aus der Politik zurück. Doch als 2004 Gerd Bocks nicht mehr antrat, dachte er sich: »Ich probier es einfach mal.«
Vier Kandidaten gab es. Sicher war nur, dass der neue Bürgermeister männlich sein und sein Nachname mit »W« beginnen würde. Auf dem Wahlzettel standen Gerald Weber (CDU), Burkhard Weinbach (Unabhängiger/Unterstützung von SPD und FWG)), Stefan Wermter (Unabhängiger) und eben Dr. Bernd Wieczorek (Unabhängiger/Unterstützung von Grünen). Schon dass er in die Stichwahl - gegen Burkhard Weinbach - kam, hatte Wiezcorek nicht erwartet. »Das war eine Überraschung. Eigentlich war die Abschlussparty vom Wahlkampf schon geplant.« Es sollte anders kommen. »Da haben sich die Wähler für den ›Farblosen‹ entschieden«, spielt er auf die Farben der Parteien an. Dass er wirkliche eine Chance habe, die Bürgermeisterwahl damals zu gewinnen, sei ihm erst nach der Stichwahl klar geworden. »Da habe ich mit dem Wahlkampf noch mal richtig Gas gegeben.« Ein großer Vorteil sei sicher gewesen, dass er Lollarer und daher in dem Städtchen und auch in den Vereinen sehr gut vernetzt war. Noch zweimal wurde Bernd Wieczorek wiedergewählt.
Am 1. Januar 2005 trat er sein Amt an. »Es war eine wahnsinnige Flut an Eindrücken.« Er habe sich erstmal reinfinden müssen, sehen wo die Sachstände waren. »So eine Eingewöhnung dauert durchaus ein bis zwei Jahre. Selbst wenn man aus der Verwaltung kommt«, erinnert sich der promovierte Sportwissenschaftler. Verwaltung war für ihn nichts Neues, hatte er doch zuvor in leitender Funktion im Sportamt der Stadt Hanau gearbeitet. Neu war für ihn indessen der kurze Weg zur Arbeit. »Vorher saß ich am Tag rund drei Stunden in der Bahn. Jetzt war ich in fünf Minuten an der Arbeit. Ich war am ersten Tag richtig erschrocken.« Das hieß indes nicht, dass die Arbeit selbst weniger war. Rund 60 bis 80 Stunden pro Woche, so schätzt Wieczorek, gehen für den Bürgermeister-Job drauf.
Auf sein erstes großes Projekt ist er heute noch stolz. Der Bereich um den alten Bahnhof sei damals »ein Schandfleck mitten in Lollar« gewesen. Bei einem der größten und auch teuersten Projekte der Stadt habe ihm das Parlament freie Hand gegeben. »Das ging nur so und das Vertrauen hat man in mich gesetzt«, so Wiezcorek. »Alles war vermüllt und verwahrlost, die Straße desaströs, es gab keine Parkplätze, da stand der alte Lokschuppen der Bahn. Wir haben drei Gebäude gekauft und abgerissen, wussten noch nicht genau, wo der Weg hingeht. Ein Riesending war das.« Die ganze Ecke wurde neu entwickelt und ausgebaut, dies auch dank der Fördermittel, die der Bürgermeister generierte. Jetzt gibt es einen Park and Ride-Parkplatz, eine direkte Anbindung zum Bahnhof, ein Lebensmittelgeschäft und neue Gebäude.
Bernd Wieczorek sagt über sich selbst, dass er fest an soziale Werte und an demokratische Werte glaube. Daher sei ihm auch das Programm »Soziale Stadt« so wichtig gewesen. »Wir haben hier eine besondere Bevölkerungsstruktur. Damit muss man umgehen können.« Unter seiner Ägide ist etwa das Familien- und Beratungszentrum im Jugendzentrum entstanden. »Die soziale Lunge der Stadt. Da bin ich richtig stolz drauf. Es gibt nichts Vergleichbares im Landkreis.« Das Programm »Soziale Stadt« sei dafür ein Glücksfall gewesen, 6,5 Millionen Euro Fördergelder wurden nach Lollar geholt. Im Vereinswesen hat er die Förderung ausgebaut, neue Sportstätten sind entstanden. Viele Mittel hierfür wurden über die Benefiz-Veranstaltungen der Stadt Lollar reingeholt.
»Als Bürgermeister muss man Generalist sein« - beschreibt der 64-Jährige die Anforderungen an das Amt. Es brauche ein fundiertes Wissen über alle Bereiche, um Entscheidungen treffen zu können. »Viele Menschen wissen gar nicht, was ein Bürgermeister alles macht.« Es reiche bei Weitem nicht, nur zu den Vereinen zu gehen, zu repräsentieren. Der Beruf sei heute wesentlich anspruchsvoller als noch vor 18 Jahren. »Es gibt so viele ausgesprochen komplexe Themen, in denen man sich auskennen muss. Wasser und Abwasserrichtlinien, Klimaschutz, Kita-Plätze und -gesetze, Digitalisierung der Verwaltung und, und, und.« Allein kraft seines Amtes hat Wieczorek »13 bis 14 Vorstandsämter« bei Verbänden inne, ist oberster Dienstherr der Freiwilligen Feuerwehr. Auch hier ist Fachwissen gefragt. Das heißt, dass nach Büroschluss noch Lektüre angesagt ist. Zwei bis drei Stunden Nacharbeit nach Sitzungen - so die Schätzung Wieczoreks. Aber: »Das breite Spektrum macht den Beruf umso interessanter.«
Er habe sehr viel dazu gelernt, resümiert der scheidende Rathauschef. »Auch im zwischenmenschlichen Bereich«, fügt er an. Seine Frau Andrea habe ein schönes Beispiel: Er sei immer der »Innenminister«, also der Introvertierte, sie die »Außenministerin« gewesen. Die Jahre als Bürgermeister hätten ihn verändert, er sei viel weniger introvertiert, habe gelernt, mehr auf die Menschen zuzugehen. Ja, bekennt er, es habe Tage gegeben, da habe der den Job auch schon mal verflucht. »Privates, die Familie, Freunde., der Sport - da bleibt einiges auf der Strecke. Generell aber hat der Beruf sehr viel Spaß gemacht.«
Als äußerst positiv bewertet er rückblickend das Vertrauen, dass die Kommunalpolitiker in in ihn gesetzt hätten. Dass es 18 Jahre werden, hätte er 2004 als frisch gewählter Bürgermeister nicht gedacht. So gibt es auch einen kleinen Wermutstropfen. Die Mitarbeiter in der Verwaltung seien ihm ans Herz gewachsen. Die werde er vermissen. »Ich hoffe, das ist auch umgekehrt ein bisschen so«, fügt er augenzwinkernd hinzu.
Jetzt zu gehen, ist auch seiner Erkrankung geschuldet. Ende 2020 zeigte sich im Zuge einer Corona-Infektion bei ihm das Guillain-Barré-Syndrom. Wieczorek kämpfte sich entschlossen ins Leben zurück. »Die Krankheit hat den Entschluss, zu gehen, noch mal gestärkt. Gerade da hat sich gezeigt, wie wichtig Gesundheit und vor allem die Familie sind.« Der Familie will er sich ab Januar verstärkt widmen. »Ich habe drei lebhafte Enkelkinder«, freut er sich auf die Zeit mit den Kleinen. »Ich will jetzt Zeit mit meiner Familie verbringen. Das ist der Plan für die Rente.«
Hat er einen Rat für seinen Nachfolger, Jan-Erik Dort? »Auf dem Boden bleiben, Mensch bleiben. Den Kontakt zu den Bürgermeisterkollegen suchen und pflegen. Von ihnen habe ich damals unglaublich viel gelernt.«
Am Donnerstag, 15. Dezember, wird Bürgermeister Dr. Bernd Wieczorek in der Stadtverordnetenversammlung offiziell verabschiedet und sein Nachfolger Jan-Erik Dort ins Amt eingeführt.
