»Hier ist alles kaputt«

Ahmet Karadag aus Langgöns stammt aus dem Erdbebengebiet in der Türkei und weiß bislang von rund 150 Verwandten und Freunden, die die Katastrophe nicht überlebt haben.
Langgöns. »Viele Freunde und Verwandte waren glücklich, ein eigenes Haus zu haben, sie haben einen hohen, bitteren Preis bezahlt«, sagt Ahmet Karadag aus Langgöns. Er stammt aus dem Erdbebengebiet in der Türkei und weiß bislang von rund 150 Verwandten und Freunden, die die Katastrophe nicht überlebt haben. Sein Beispiel zeigt besonders drastisch, wie sehr auch Menschen aus unserer Region von dem Erdbeben in der Türkei und Syrien betroffen sind.
Karadag wurde in der süd-anatolischen Stadt Kahramanmaras geboren. Sie liegt etwa 50 Kilometer nördlich des Epizentrums. Von dort und aus der Stadt Pazarcik, woher seine Mutter stammt, meldeten sich Verwandte und Freunde schon kurz nach dem Beben bei dem Langgönser Rechtsanwalt. Die Bilder und Videos, die sie ihm geschickt haben, muten an wie aus einem Krieg.
Überall Trümmerberge, Dreck, Ruinen und zerstörte Infrastruktur. »Beide Städte wurden nahezu komplett zerstört, es gibt sie nicht mehr«, berichtet der 49-Jährige, der dem Langgönser Gemeindeparlament der SPD-Fraktion angehört. Er hatte drei Tage nach dem Beben in der Sitzung der Gemeindevertretung eine sehr bewegende Rede gehalten.
»Es geht mir darum, diese Katastrophe zu personalisieren, denn solche Ereignisse sind manchmal sehr abstrakt«, sagte er noch sichtlich erschüttert von den Ereignissen und bat die Gemeindevertreter, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu spenden, nicht nur für die Menschen in der Türkei, sondern auch in Syrien.
Zehn Tage nach dem Beben wirkt Ahmet Karadag wieder gefasster, wenngleich auch die Katastrophe seinen Alltag noch immer dominiert: »In jeder freien Minute telefoniere ich mit Freunden und Verwandten in der Türkei und versuche, von hier aus Hilfe zu organisieren.« Sehr wichtig sei auch die moralische Unterstützung. »Alle meine Onkel, Tanten und Cousins leben, aber leider sind viele von deren Kindern und viele gute Freunde von mir unter den Opfern«, sagt Karadag.
Nachdem seine Mutter im Mai 2022 gestorben und in ihrem Geburtsort Pazarcik beerdigt worden war, lebt sein Vater wieder in Deutschland bei der Schwester von Ahmet Karadag in Aßlar. »Mein Vater war der klassische Gastarbeiter. Er kam Ende der 60er-Jahre alleine nach Wetzlar und arbeitete bei Buderus.« Der kleine Ahmet zog als Fünfjähriger mit Mutter und großem Bruder nach, die jüngere Schwester wurde hier geboren. »Ich habe an meine ersten Jahre in der Türkei noch unheimlich viele schöne und lebendige Erinnerungen.«
In Deutschland legte er dann geradezu eine Bilderbuch-Bildungskarriere hin: Als Sohn aus einer nach eigenen Worten »komplett bildungsfernen Familie« machte Karadag Abitur und studierte in Gießen Jura. Heute hat sich der Rechtsanwalt als Berater für Unternehmen im Bereich Lebensmittel und Nahrungsergänzung spezialisiert. »Mit allen sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten habe ich trotzdem eine schöne Kindheit gehabt, in der Türkei hätte ich als Kind von sehr armen Menschen nicht die Möglichkeit bekommen, kostenlos zu studieren und auch noch BAföG zu erhalten«, bilanziert er.
Seiner Mutter, die Analphabetin war, hat er als Zwölfjähriger Lesen und Schreiben beigebracht. Heute möchte er »das Viele, was ich bekommen habe, gerne zurückgeben, das ist mir wichtig«. Obwohl er seit rund 45 Jahren in Deutschland lebt, sich mit Ehefrau und Tochter seit vielen Jahren in Langgöns sehr wohl fühlt und hier fest verwurzelt ist, ist der Kontakt zu seiner türkischen Heimat nie abgerissen: »Wir sind früher jedes Jahr im Sommer mit dem Auto die Strecke gefahren.« Als der Vater in Rente ging, zogen die Eltern zurück in die Türkei, die drei erwachsenen Kinder blieben in Deutschland. »Wir sind aber weiter regelmäßig dort zu Besuch gewesen, sodass auch die Freundschaften mit meinen früheren Spielkameraden aus Kindertagen bestehen blieben.«
Am Tag des Erdbebens am Montag, dem 6. Februar, erfuhr Ahmet Karadag kurz vor 6:30 Uhr von der Katastrophe: »Freunde aus Istanbul riefen an und fragten mich, ob ich etwas wüsste, ich habe erst gar nicht verstanden, was passiert war.« Sein erster Gedanke war: »Wen kann man anrufen?« Via WhatsApp erreichte der Langgönser seinen Cousin Bilal aus Pazarcik, da lag das Beben gerade vier Stunden zurück. »Bilal sagte: Hier ist alles kaputt, die Familie habe ich ins Auto verfrachtet, jetzt warten wir auf Hilfe.« Zwei Tage dauerte es, bis Erste Hilfe ankam, berichtete der Cousin dann am Mittwochabend. Während dieser Zeit waren die Menschen in dem Ort komplett auf sich gestellt, hatten kein Trinkwasser, auch telefonisch gab es kaum Verbindungen. »Wir sind binnen zwei Minuten zu Bettlern geworden, das ist das Schwierigste«, bekannte der Cousin unter Tränen. Weil er keine Schuhe hatte und Minustemperaturen herrschten, suchte er in den Trümmern nach Stofffetzen und Plastiktüten, aus denen er sich notdürftig Schuhwerk band.
Ein Freund von Ahmet Karadag aus Kahramanmaras schilderte Unvorstellbares, sprach von Szenen »wie in einem Horrorfilm«. Er habe tagelang das Rufen und Stöhnen von Angehörigen, die unter den Trümmern lagen, gehört und konnte ihnen nicht helfen. Von Tag zu Tag seien immer mehr Stimmen verstummt. Manche Menschen hatten Glück und wurden geborgen, wie die einzige noch lebende Tante von Ahmet Karadag: Die 89-Jährige, die allein in ihrem eingeschossigen Haus lebte, wurde von ihrem Sohn direkt nach dem Beben aus den Trümmern befreit. »Eigentlich töten Erdbeben nicht, nur die von den Menschen geschaffenen Gebäude.« Für den Langgönser ist klar: »Die türkische Bevölkerung war und wurde nicht vorbereitet, daran müssen sich zukünftige Regierungen messen lassen.«
Bei seinen zahlreichen Besuchen in der türkischen Heimat hat Karadag, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, nie ein Erdbeben erlebt, »nur einmal, als ich in Istanbul war«. Das letzte Beben von der Stärke des aktuellen liege hunderte Jahre zurück. »In der Erinnerung der Gesellschaft gab es das gar nicht mehr, es konnte sich keiner vorstellen, nur die Wissenschaftler wussten es.« Er kritisiert, dass keine wirklichen Maßnahmen im Bauwesen getroffen wurden. Es habe zwar gesetzliche Vorschriften gegeben, die aber oft nicht beachtet worden seien. Viele Bauten seien illegal errichtet worden. »Es ist das Bestreben der Menschen dort, Haus- oder Wohnungseigentümer zu sein, möglichst zu günstigen Preisen.« In der Türkei gebe es deshalb immer wieder sogenannte Bauamnestien, »zuletzt 2018, meistens vor Wahlen«. Dabei könne man gegen entsprechende Zahlung seine illegal errichteten Gebäude legalisieren.
Das Erdbeben liegt nun über zwei Wochen zurück. »Der erste Schock bei den Betroffenen ist einer großen Verzweiflung, Zukunftsangst und Ungewissheit, wo man unterkommen kann, und auch einer großen Wut und Hoffnungslosigkeit gewichen«, sagt Karadag. Andererseits sei die Anteilnahme im Land und auch international sehr hoch und werde von der Bevölkerung sehr geschätzt. Auch Menschen aus politisch mit der Türkei im starken Konflikt stehenden Staaten wie Griechenland und Israel seien sehr aktiv: »Ein politisches Feindbild aufbauen geht bis zu einem gewissen Grad, aber das Positive im Menschen überwiegt«, ist Karadag überzeugt.
Nachdem er überlegt hatte, am ersten Wochenende nach dem Beben in die Türkei zu fliegen, um zu helfen, konnten ihn die Freunde vor Ort überzeugen, dass es besser sei, von Deutschland aus zu agieren. »Wir möchten mit persönlicher Hilfe meine Verwandten und Bekannte nachhaltig unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe leisten.« Denn für die Überlebenden der Katastrophe seien die Herausforderungen auch in ökonomischer Hinsicht enorm. Viele Menschen seien als Kleinunternehmer tätig, viele wirtschaftliche Existenzen nun zerstört. Karadag plant mit seiner Langgönser SPD, den Ortsvereinen und dem Gewerbe eine Hilfsaktion, deren Erlös an vertrauenswürdige Hilfsorganisationen gehen soll. Im Sommer möchten er und sein Bruder dann auch in die Türkei reisen.
»Der Aufbau wird ein Projekt von Jahrzehnten, und es wird eine lange Zusammenarbeit auch von deutschen Firmen und der Türkei geben«, glaubt er. »Wir können als Deutsche stolz sein, dass Staat und Bevölkerung immer sehr weit vorne helfen, wir müssen es gemeinsam machen.«


