Zwischen verschiedenen Welten

Schüler des DaZ-Bereiches hatten sich mit ihrer Lehrerin Sultana Barakzai seit Oktober im Projektunterricht und im Fach kulturelle Bildung mit dem Thema »Heimat« auseinandergesetzt.
Lollar (sle). Schüler des DaZ-Bereiches (Deutsch als zweite Fremdsprache) hatten sich mit ihrer Lehrerin Sultana Barakzai seit Oktober 2022 im Projektunterricht und im Fach kulturelle Bildung mit dem Thema »Heimat« auseinandergesetzt. Dabei stellte sich die Frage: »Was ist Heimat, und was bedeutet das für mich persönlich?«
Fluchtgedanken zu Papier gebracht
Es wurden zunächst Plakate und Collagen erstellt. Im zweiten Schritt schrieben Schüler, die sprachlich bereits fit sind, ihre Fluchtgedanken auf. In einer Projektlesung vor vollbesetztem Haus in der Mediothek der Schule lasen sie nun ihre Geschichten vor. Schulleiter Andrè Keller, der die Veranstaltung eröffnete freute sich über das große Interesse der Öffentlichkeit. Besonders begrüßte er Dr. Erika Schellenberger-Diederich, die die Grüße des hessischen Kultusministers überbrachte. Er dankte auch Wiebke Meuser, der Profilschulkoordinatorin Literatur für ihr ständiges Engagement.
Seine ganz besondere Hochachtung sprach er den Schülern aus für ihren Mut, die Geschichten zu Papier zu bringen und den meist fremden Menschen vorzutragen. »Wer sich mit Flucht und Heimat beschäftigt, der denkt automatisch über das Wandern zwischen verschiedenen Welten nach«, sagte er. »Das Gehen, Fliehen und das Ankommen sind nie einfach, obwohl sie die Geschichte und den Charakter der Menschheit von Beginn an prägen. Wir hier in Lollar heißen euch willkommen«, erklärte Keller, ehe er auch der Kollegin Barakzai dankte, von der die Idee für das literarische Projekt »Flucht und Heimat« stammte.
Dann reichte er das Mikrofon weiter an die erste Schülerin, die 14-jährige Ros Ibrahim. »Ich hatte noch ein glückliches Leben bis zu dem Tag, als Russland diesen Krieg begann.« Die Familie beschloss zu fliehen. Als man im Auto die Türkei erreichte, verstarb der Vater. »Nun hatten wir niemand mehr, der uns beschützt hätte«, sagte sie. Sie setzten die Flucht fort und kamen schließlich nach Deutschland, wo sie in der ersten Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft lebten. »Ich war nur noch traurig«, beschreibt sie ihre damalige Gemütslage. »Inzwischen lebe ich ein neues Leben und bin dabei, die Sprache zu lernen«, sagte sie.
Durch großen Lärm geweckt
Auch Aleksander, der mit Mutter und Schwester aus der Ukraine nach Polen floh erinnert sich noch ganz genau an den 24. Februar 2022, als er morgens um 5 Uhr durch großen Lärm wach wurde. Es waren russische Raketen, die einschlugen, Russland hatte den Krieg begonnen, wovon in der Ukraine, wie er sagt, bereits seit 2021 gesprochen wurde. »Um 11 Uhr rief meine Schwester an, die sagte, wir sollten packen.« Es wurde in der Familie überlegt, ob man noch warten sollte oder sofort das Land verlassen, solange es noch möglich sei. Man entschloss sich dann, noch zu warten, denn alles aufzugeben ist ein Entschluss, der gut überlegt sein will. Keiner verlässt gerne seine Heimat, um auf gefährlichen Routen in einer vollkommen anderen neuen Welt mit einer oft unverständlichen Kultur anzukommen und dort eine neue Heimat zu suchen. Häufig ist das Gehen dann mit der Hoffnung auf Wiederkehr zu den alten heimischen Wurzeln verbunden. Diese Gedanken seien ihm durch den Kopf gegangen, als sich die Familie am Abend schlafen legte. »Ich konnte aber nicht schlafen«, sagte er. Bereits morgens um 7 Uhr kamen schon wieder Bomber. »Jetzt beschlossen wir, nicht mehr zu warten. Mutter rief meinen Vater an (sie waren geschieden), der uns einen kleinen Bus besorgte, mit dem wir nach Polen fuhren. Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter nach Deutschland. Jetzt gehe ich ihr hier auf eine deutsche Schule und es gefällt mir sehr gut. Ich habe schon viele neue Freunde gefunden.«
Die Schüler hatten ein Video gedreht, das sich um die Begriffe Krieg, Zerstörung, und Heimat drehte. Die Frage »Warum« stand dabei immer im Raum. Auch der Begriff »Heimat« ist nicht so einfach zu beantworten.
Dies stellte auch die zehn Jahre alte Hania fest, die als nächste ihre Fluchtgeschichte den Besuchern vorlas. Die Iranerin kam mit ihren Eltern über die Türkei nach Deutschland. Aber so einfach, wie es sich liest, war es nicht, sagte sie. Vorausgegangen war, dass es große Probleme im Iran mit den Eltern und der Obrigkeit gab, so dass sich die Familie entschloss, das Land zu verlassen. »Wir flüchteten zu Fuß, weil es plötzlich ganz schnell gehen musste. Wir hatten keine Ausweise bekommen, ich war krank vor Angst«, sagte Hania.
40 Menschen in einem Lkw
Menschenhändler brachten sie ein Stück weiter. Dabei wurden sie in einen Lkw verfrachtet. »Wir waren 40 Menschen in dem Auto, es war schrecklich«, erinnerte sie sich. »Schließlich wurde das Auto von der Polizei gestoppt, die uns in ein Haus brachte. Da waren wir schon im Westen. Wollten wir etwas zu essen haben, mussten wir uns um 5 Uhr früh anstellen.« Auch sie hat inzwischen Freunde gefunden und es wird nun leichter für sie.
Die 16 Jahre alte Kateryna wehrte sich am Anfang, als die Mutter sagte, der Krieg habe begonnen und sie wollten das Land verlassen. »Ich wollte nicht mitgehen und alles zurücklassen, was ich lieb gewonnen habe«, sagte sie. Erschreckend wurde ihr aber klar, dass es für sie keine andere Möglichkeit gab, als mit der Familie zu fliehen. Über Polen kamen sie nach Deutschland und nach langer Wohnungssuche hat die Familie nun ein eigenes Domizil gefunden. In der Schule habe sie große Unterstützung bekommen. »Oft spreche ich mit meiner noch in der Ukraine verbliebenen Freundin über das Internet.« Der Anfang war recht schwer. »Aber jetzt ist es besser, da ich neue Freunde gefunden habe und wir in Deutschland so gut aufgenommen wurden.«
Im Anschluss an die Fluchtgeschichten war Gelegenheit, Fragen zu stellen. »Was habt ihr in der Eile mitgenommen?« Fast alle antworteten, dass es Fotos ihres alten Lebens waren. Auf die Frage, ob sie wieder zurückkehren würden, wenn der Krieg beendet ist, kam ein »Ja«, denn fast alle haben die Absicht, dann in der alten Heimat zu studieren. Ein nachdenklicher Abend.