Die große Barbarei und ein paar kleine Heldentaten

Rabenau. »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden«, hatte schon der große Vordenker der Vernunft, Immanuel Kant, erkannt. Doch gerade weil der Mensch sich in Gänze bislang allen Versuchen widersetzte, sich in eine Richtung (ver)biegen zu lassen, auch wenn es gerade im 20. Jahrhundert an Versuchen der menschlichen Deformatierung nun wahrlich nicht gefehlt hat, besteht Hoffnung.
Am Formbarsten ist der Mensch in seiner Jugend, und wie sehr ein totalitäres Regime junge Menschen verhetzen kann, zeigt eine kleine Episode, die sich 1938 während der Verhaftungswellen infolge der Reichspogromnacht in Londorf zugetragen hat : »Kurz darauf kam ein großes Auto mit einem bewaffneten SS-Mann als Beifahrer und wir wurden mitgenommen«, erinnert sich nach dem Krieg ein damals inhaftierter jüdischer Bürger. »Die Fahrt ging ins Lumdatal über Daubringen, Mainzlar, Treis, Allendorf bis Londorf. In den drei letztgenannten Dörfern wurden die dort ansässigen jüdischen Männer zusammengetrieben, geschlagen und misshandelt. Und dann in Autos eingeladen mit Schlägen. Schlimmer wie Tiere wurden die unschuldigen Menschen behandelt, nur, weil sie Juden waren. (...) In Londorf konnte sich unser Chauffeur kaum retten vor der wilden und bewaffneten Hitlerjugend. Es blieb ihm keine andere Wahl, als den Revolver zu ziehen und Schüsse in die Luft abzugeben.«
Für diese Fahrt stellen die Stadtwerke Gießen - Ordnung muss sein - am 26. September 1942 der Gestapo für eine Gesamtstrecke von 94 Kilometern Transportkosten von 79,90 Reichsmark in Rechnung.
Trauriges Jubiläum
1933 lebten 40 jüdische Bürger in elf Familien in Londorf. Bei 1041 Einwohnern entsprach das einem Bevölkerungsanteil von 3,8 Prozent. Viele verdienten ihren Lebensunterhalt als Viehhändler oder Metzger, von denen es allein drei im Dorf gab. Bis 1941 sank die Zahl der Juden in Londorf durch Emigration und Vertreibung auf 15 Menschen, und genau heute vor 80 Jahren wurden die letzten elf Juden in die Konzentrationslager deportiert.
Dieser traurige Jahrestag ist der Anlass, heute im Beisein von Nachfahren der damals Vertriebenen und Ermordeten mit der Errichtung der 15 Stelen in Londorf zum einen würdig an die Menschen zu erinnern, die damals Freunde und Nachbarn, Bekannte und Verwandte waren. Zum anderen geht es aber auch darum, eines im 20. Jahrhundert nicht mehr für möglich gehaltenen Zivilisationsbruchs zu mahnen
Wie akribisch das NS-Regime bei der Auslöschung jahrhundertelanger jüdischer Kultur und Nachbarschaft vorging, ist bestens dokumentiert. So fordert etwa der Landrat des Kreises Marburg die Kreisbürgermeister bereits ein Jahr vor der Deportation auf, ihm alle in der Gemeinde lebenden Juden zu melden. »Die Kinder, die dort noch wohnhaft sind, dürfen unter keinen Umständen vergessen werden. (...) Die Kontrolle hat staatspolitische Bedeutung« , schärft der Landrat seinen Bürgermeistern ein. Wer da nicht mitzieht, hat ein Problem.
So vermeldet die »Oberhessische Tageszeitung« bereits am 29. August 1935 im selben Artikel, in dem sie mitteilt, dass die Gemeindevertretung »einem langgehegten Wunsche der Bevölkerung« entspricht und fortan im Ort das Hetzblatt ›Stürmer‹ aushängt, dass der seitherige Bürgermeister seines Amts enthoben wird, weil »er seine geschäftlichen Beziehungen zu dem Juden Max Rosengarten (Allendorf) nicht abbrechen konnte« .
Welches Klima damals im Dorf herrscht, zeigen gerade kurze Meldungen in der »Oberhessischen Tageszeitung«. Der Wegzug eines jüdischen Nicht-mehr-Mitbürgers wird wie folgt kommentiert: »Endlich ist auch hier wieder ein krummnasiger Halsabschneider mit Sack und Pack abgezogen.«
Zwei kleine Wunder
Angesichts eines solchen von oben angeheizten Klimas und der nahezu lückenlosen sozialen Kontrolle in einem Dorf, in dem jeder jeden kennt, gleicht es einem Wunder, dass zwei jüdische Frauen im Lumdatal versteckt bis zur Befreiung durch die Amerikaner überleben konnten. Und doch ist dieses Wunder geschehen, weil auch im Dritten Reich Menschen aus krummem Holz geschnitzt waren.
Als am 2. März 1943 Gießens Oberbürgermeister ebenso wie viele Amtskollegen in den Kreisgemeinden zuvor und danach stolz verkündete: »Gießen ist judenfrei«, irrten sich die Nazi-Funktionäre. Lina Lich aus Londorf und Johanna Becker (geb. Ziegelstein) aus Treis sind der Deportation entgangen, weil der Londorfer Gendarm Franz Blumenfeld beide gewarnt hatte. Der letzte Sammeltransport ins Konzentrationslager Theresienstadt fuhr ohne die beiden Frauen ab, die bis zum Kriegsende von Freunden und Angehörigen in wechselnden Verstecken untergebracht wurden. Neffe Helmut Lich erinnerte sich später an die bangen Tage im Versteck: »Tante Lina war durch die Haft bei der Gestapo und die ganzen Umstände sehr krank geworden. Sie konnte nicht mehr laufen und lag meist bewusstlos im Bett. Ich sehe heute noch meinen Onkel Fritz vor mir, wie er ihr Parfüm auf die Stirn tupft, und wenn sie wieder mal kurz wach war, versuchte er, ihr mit einem Löffel etwas zu essen zu geben. Sie konnte nicht raus, musste ja auch den Stern tragen.«
Mehrfach entging Lina Lich nur knapp der Entdeckung. Der damals 15 Jahre alte Zeitzeuge Walter Schneider erinnerte sich später: »In einem Nebengebäude zwischen Wurst- und Schlachthaus der Metzgerei Lich - dort feierten ja auch immer die Londorfer SA und die SS - haben wir Verstecken gespielt. Wir sind die Treppe hoch, unter dem Dach riss ich eine Tür auf und da saß plötzlich eine mir fremde Frau im Zimmer. Alle erschraken fürchterlich. Der Vater von Kurt gab uns Wurst und verdonnerte uns eindrücklich zum Schweigen. Die Frau wäre nicht richtig, murmelte er, daher müsse sie da sitzen. Wir haben nie mehr gefragt und auch nichts verraten.« Lange nach dem Krieg traf Schneider Lina Lich in Gießen wieder, die sich bei ihm bedankte, sie damals nicht verraten zu haben. »Hätte ich das getan, so sagte sie, hätte sie wohl nicht überlebt.«
Auch Johanna Becker überlebte und verwandte sich im Februar 1946 für den als ehemaliges Parteimitglied von den Amerikanern vom Dienst freigestellten Gendarmen: »Ich bin Herrn Blumenfeld für seine edle Tat zum größten Dank verpflichtet.«
Doch solche Aktionen blieben die Ausnahme. Weit exemplarischer für das Los der Londorfer Juden ist das Schicksal von Ruth Wertheim, deren Sohn, der heutige Präsident der Universität Harward, Lawrence S. Bacow, ist. Er ist aus den USA in den Geburtsort seiner Mutter zur Enthüllung der Gedenkstelen angereist. Ruth Wertheim überlebte als einzige mehrere Konzentrationslager, während ihre fünf Jahre ältere Schwester Inge und ihre Eltern dem Rassenwahn des NS-Regimes zum Opfer fielen.
Nur Ruth überlebt
»Bis 1933 lebten wir ein ziemlich normales Leben. Mein Vater Leopold war gemeinsam mit meinem Großvater Viehhändler. Da das meiste Land um uns herum aus Bauernhöfen bestand, führten wir ein angenehmes Dasein« , schrieb sie später in einem Brief an eine amerikanische Historikerin. Vater Leopold hatte 1914 in der Marne-Schlacht den rechten Arm für Kaiser, Volk und Vaterland verloren. Bereits ein Jahr nach Ruths Einschulung 1933 »änderte sich die Situation und wurde immer schlimmer. Ich wurde von allen Extra-Aktivitäten ausgeschlossen, wurde von den anderen Kindern auf dem Spielplatz gemieden und verhöhnt, und da ich das einzige jüdische Kind in der Schule war, hatte ich keine Freunde oder Spielgefährten.« Als Ruth in der Volksschule Londorf »grün- und blaugeschlagen« wurde. wechselte sie auf eine jüdische Ganztagsschule in Offenbach und nach deren Verwüstung in der Reichspogromnacht 1938 auf ein Internat in Bad Nauheim.
Ihre Schwester Inge wurde nach Kriegsausbruch gezwungen, in einer Munitionsfabrik in Gießen zu arbeiten. Als sie dort verbotenerweise mit einem französischen Kriegsgefangenen sprach, wurde sie in das KZ Ravensbrück gebracht. Ruth hat sie nie wieder gesehen. 1942 wurde der Rest der Familie in das angebliche Vorzeige-KZ Theresienstadt deportiert. Entgegen der auf Zelluloid gebannten Propaganda waren die Lebensbedingungen dort aber so schlecht, dass die Menschen «wie die Fliegen« starben, schrieb Ruth. »Mein lieber Großvater starb nach ein paar Wochen« , ihre Oma kurze Zeit später. Am 6. Oktober 1944 wurden die Wertheims nach Auschwitz transportiert. Am Bahnhof des Vernichtungslagers wurde Ruth von ihren Eltern getrennt. «Ich habe sie nie mehr wieder gesehen.« Sie selbst wurde zwei Wochen später als Zwangsarbeiterin in eine Rüstungsfabrik ins Riesengebirge geschickt, wo sie von sowjetischen Truppen am 5. Mai 1945 befreit wurde.
Nachdem sie halb Deutschland zu Fuß durchquert hatte, war Ruth Wertheim die einzige von 15 Londorfer Juden, die lebend in ihr Dorf zurückkehrte. Willkommen geheißen wurde sie dort allerdings nicht. »Ich wünschte mir, ihr hättet die Gesichter gesehen, als ich in Londorf ankam. Unser Haus war natürlich bewohnt, Möbel u.s.w. weg. Einen Teil von unseren Sachen habe ich schon zurück. Der größte Teil ist natürlich nicht in Londorf gewesen. Bis jetzt hat mir auch noch nicht der Sinn danach gestanden, nachzuforschen.«
Am 15. Juli 1946 kam sie mit dem zweiten »Liberty«-Schiff, das Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten brachte, im Hafen von New York an. Gegen Ende ihres Lebens zog Ruth Bacow, geborene Wertheim, diese Bilanz: »Amerika war sehr gut zu mir. Ich war 44 Jahre glücklich verheiratet. Habe eine Tochter und einen Sohn, beide verheiratet und wir haben vier Enkelkinder. (...) Ich habe viel erlebt mit 18 Jahren, vielleicht mehr wie manche 50-Jährige, aber Auschwitz war der Schrecken aller Schrecken. (...) Heute bin ich nicht mehr das zimperliche ›Ruthchen‹ von früher. Ich hab` gelernt, die Zähne zusammen zu beißen (...) Vor langer Zeit beschloss ich, dass ich nicht mit Hass und Verbitterung leben könnte. Das hätte mich zerstört. Allerdings, unnötig zu sagen, ich kann niemals vergeben oder vergessen, was geschehen ist [ ]« .
Unzertrennlich
Eine eigene Seite wert wäre die Geschichte der Schwestern Irma und Brunhilde (»Hilde«) Simon, die in den Nachkriegsjahren als tot galten, aber eine Odyssee durch mehrere Konzentrationslager überlebt hatten. Die Töchter des Metzgers und Vorbeters in der Synagogengemeinde, Isaak Simon, waren zu einer befreundeten Familie nach Amsterdam geschickt worden, nachdem es im April 1933 während des sogenannten »Judenboykotts« bereits zu Vandalismus an jüdischen Geschäften in Londorf kam und auch im Wohnhaus der Familie Simon die Scheiben eingeworfen wurden. Im Mai 1943 wurden Irma und ihr niederländischer Mann, im September dann auch Hilde und ihr Mann inhaftiert und am 1. Februar 1944 nach Bergen-Belsen deportiert. Sowohl Hildes, als auch Irmas Ehemann starben dort an Typhus. Mit dem letzten von drei Transporten wurden die beiden Schwestern am 11. April 1945 Richtung Theresienstadt geschickt, um als »Austauschjuden« in eventuellen Verhandlungen mit den Briten oder Amerikanern eingesetzt zu werden. Dieser als »Zug der Verlorenen« in die Geschichte eingegangene letzte Transport blieb nach einer zweiwöchigen Irrfahrt durch Deutschland in der Nähe des brandenburgischen Tröbitz stehen und wurde am 23. April 1945 von der vorrückenden Roten Armee befreit.
Die Schwestern gingen zunächst zurück nach Amsterdam, um am 1. Januar 1947 von London aus an Bord der »Queen Elizabeth« in die USA zu reisen, wo sie fortan lebten. Irma hatte ihrer Mutter das Versprechen gegeben, immer auf ihre »Baby Sister« aufzupassen.
Nach all den gemeinsam durchlebten Schicksalsschlägen haben sich die Schwestern nie mehr verlassen. Mit ihren zweiten Ehemännern lebten sie zunächst nebeneinander und nach deren Tod gemeinsam in Englewood (New Jersey). 2004, im Alter von über 90 Jahren, beschlossen beide, nach Israel auszuwandern und ihren Lebensabend in einem Seniorenheim in Jerusalem zu verbringen. Über sie berichtete die »New York Times« am 29. Dezember 2004 unter dem Titel »Ein Band, das Zeit und Tragödie nicht durchtrennen konnten«. Hilde Meyer, geb. Simon, starb am 10. Mai 2005 im Alter von 95 Jahren. Irma Haas, geb. Simon, wurde 101 Jahre alt und starb am 18. April 2009.
