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Südumgehung Reiskirchen: Fiktion oder Realität?

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Von: Volker Böhm

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Das Verfahren für die Ortsumgehung von Reiskirchen und Lindenstruth hat bereits viele Aktenordner gefüllt. Die Behördenakten in Kassel umfassen 26 Leitz-Ordner, die Gerichtsakten in jedem Verfahren rund 1000 Seiten. Archivfoto: Böhm © Volker Böhm

Ob die Südumgehung von Reiskirchen und Líndenstruth gebaut wird, entscheidet ab Dienstag der Verwaltungsgerichtshof in Kassel.

Reiskirchen. 2 C 948/17.T und 2 C 949/17.T - hinter diesen Aktenzeichen verbirgt sich ein Straßenbauprojekt, dessen Geschichte nicht nur im Landkreis Gießen, sondern weit darüber hinaus seinesgleichen sucht. Bereits im Verkehrswegeplan von 1968 ist für die Bundesstraße 49 eine Südumgehung um Reiskirchen und Lindenstruth projektiert worden. 54 Jahre später ist diese Straße immer noch nicht gebaut. Vielleicht kommt es auch nie dazu. Eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob die Südumgehung Realität wird oder Fiktion bleibt, spielt das dreiköpfige Richterteam des zweiten Senats des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) in Kassel. Dort wird am morgigen Dienstag und eventuell auch am Mittwoch, 21. September, über zwei Klagen gegen die Ortsumgehung verhandelt. Gemäß der römischen Juristenweisheit »Vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand« ist ein Ausgang nicht einschätzbar.

Fakt ist: Ein Urteil wird es nach der mündlichen Verhandlung nicht sofort geben. Die Richter werden beraten und ihre Entscheidung wenige Wochen später bei einem Termin verkünden.

Wie ist die Ausgangslage? Kaum ein Thema hat die Diskussion in Reiskirchen in den vergangenen Jahrzehnten - in unterschiedlicher Intensität - so geprägt wie das 4,2 Kilometer lange Straßenbauprojekt. Der Beschluss für die Südtrasse fiel in der Gemeindevertretung bereits 1991.

Bürgerentscheid scheiterte 2009

Höhepunkt der Auseinandersetzung war 2009 der letztlich gescheiterte Bürgerentscheid. Dabei ging es um die Frage, ob ein Parlamentsbeschluss pro Südvariante aufgehoben werden sollte und die Gemeindegremien diese Planungsvariante in Zukunft nicht mehr befürworten sollten. 34 Prozent kreuzten »Ja« an und stimmten damit gegen die Südumgehung. 66 Prozent votierten mit »Nein«. Anfang 2013 schloss das Regierungspräsidium Gießen das Anhörungsverfahren ab; das Verkehrsministerium in Wiesbaden war am Zug. Der Plan wurde in mehreren Bereichen aktualisiert. Kurz vor Weihnachten 2016 unterschrieb der damalige Staatssekretär Mathias Samson den Planfeststellungsbeschluss.

Wer nun auf einen zügigen Baubeginn hoffte, sah sich getäuscht, denn im Frühjahr 2017 gingen zwei Klagen gegen den Beschluss beim VGH ein. Der Landesverband des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) und Carmen Grieb vom »Sonnenhof« in Lindenstruth wehren sich gegen das Projekt. Sie fordern, dass der Planfeststellungsbeschluss aufgehoben wird. Inhaltlich und finanziell stehen auch die Reiskirchener Grünen, die Naturfreunde Jossolleraue und der VCD-Kreisverband hinter den Klagen. Beklagter ist das Land Hessen.

Zunächst war versucht worden, in einem Mediationsverfahren eine Einigung zu erreichen. Die Kläger hatten dieses beantragt. Vertreter aus dem Verkehrsministerium und von Hessen Mobil saßen den Gegnern der Südumgehung bei Gesprächen unter Leitung eines Güterichters gegenüber. Die Mediation scheiterte jedoch. Da zu dem ganzen Themenkomplex Vertraulichkeit vereinbart worden war, blieben die Gründe des Scheiterns im Dunkeln. Die Gemeinde Reiskirchen war an der Mediation ohnehin nicht beteiligt, ist jetzt aber sogenannte Beigeladene. Das bedeutet, dass die Gemeinde als Verfahrensbeteiligte ebenso wie die Kläger oder das Land Anträge in der Verhandlung stellen kann. Gleichermaßen kann sie Rechtsmittel beim Bundesverwaltungsgericht einlegen.

»Es geht um Verfahrensmängel«

Was erwarten die Verfahrensbeteiligten von der mündlichen Verhandlung? Mathias Biemann ist im geschäftsführenden Vorstand des VCD-Landesverbandes. Er sagt: »Das ist kein spannender Mordprozess mit Plädoyers. Es geht um Verfahrensmängel, falsche Berechnungen und Grundlagen.« Er erwarte eine eher kleinteilige Beschäftigung mit Details zu Naturschutz, Verkehrszählungen oder Verfahrensfragen. »Der VCD sieht Mängel bei der Planung und die Gegenseite sieht es anders. Da geht es nicht um Emotionen.«

Auf die Frage, welchen Ausgang des Verfahrens er erwarte, antwortete Biemann, dass der beauftragte Gutachter optimistisch sei und eine Chance sehe. »Sonst hätten wir damit gar nicht angefangen.«

Carmen Grieb, die Inhaberin des »Sonnenhofs«, wollte sich auf Anfrage des Anzeigers nicht äußern und verwies auf ihren Berater Wulf Hahn. Dieser ist geschäftsführender Gesellschafter von »RegioConsult«, einer Fachagentur für Stadt-, Verkehrs-, Umwelt -und Landschaftsplanung in Marburg. Hahn ist Gutachter für Grieb und den VCD. »Wir greifen die Variantenabwägung zugunsten der Südumgehung an und halten diese für fehlerhaft«, erklärte er. Auch die Baukosten spielten eine erhebliche Rolle. Hahn verwies auf eine Kostenermittlung des damaligen Amtes für Straßen- und Verkehrswesen in Schotten, inzwischen Teil von Hessen Mobil. Dieses habe 1999 für die Südumgehung eine Summe von 20,96 Millionen Mark und für die Nordumgehung von 29,7 Millionen Mark angegeben. Die neueste Berechnung von 2016 gehe von 16,9 Millionen Euro für die Südvariante aus. »Wir halten die Entscheidung für absolut offen und gehen mit verhaltenem Optimismus in die Verhandlung«, erläuterte Hahn.

Reiskirchens Bürgermeister Dietmar Kromm (parteilos) hat hingegen eine andere Erwartung. »Meine ganz große Hoffnung ist, dass das Ergebnis des Bürgerentscheids von 2009 respektiert wird. Mit einem klaren Votum ist die Planung für die Südumgehung damals bestätigt worden.« Folglich wünsche er sich, dass der VGH die Klagen zurückweise. Ob die Gemeinde letzteres beantragen werde, wisse er noch nicht. Er wolle aber - wenn erforderlich - in der Verhandlung eingreifen und die Interessen der Gemeinde vertreten.

Im Wiesbadener Verkehrsministerium hält man den Planfeststellungsbeschluss von 2016 »selbstverständlich nach wie vor für rechtmäßig« und man erwarte, dass das Gericht ihn bestätigt. Dies teilte der stellvertretende Pressesprecher Wolfgang Harms auf Anfrage mit. Abweichende Planungen für eine Ortsumgehung seien deshalb nicht aufgenommen worden. Diese Antwort bezog sich auf Informationen, dass im Zuge der Mediation ein neues Gutachten für eine Nordumgehung angefertigt worden sei.

Baubeginn steht in den Sternen

Wie geht es nach der Entscheidung des VGH weiter? Sollten die Klagen abgewiesen werden, können Rechtsmittel beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Was das zeitlich bedeutet, ist nicht abzuschätzen.

Wenn es nicht zu einer Revision kommt, hätte der Planfeststellungsbeschluss Bestandskraft. Hessen Mobil werde dann die Ausführungsplanung erstellen und die Ausschreibung vorbereiten. »Dabei wird auch geprüft, ob die Planunterlagen aktualisiert werden müssen. Dies wird einige Zeit beanspruchen. Die Frist bis zum Baubeginn lässt sich daher nicht seriös abschätzen«, stellte Harms dar. Vor Baubeginn müsse der Bund das Projekt zur Freigabe der Gelder im Bundeshaushalt in den Straßenbauplan einstellen.

Und wenn die Kläger ganz oder teilweise Erfolg haben? Wenn das Land nach Prüfung der Urteilsbegründung auf Rechtsmittel verzichten würde, müsste die Planung überarbeitet werden. »Der Zeitaufwand hängt dann vom Ausmaß der geforderten Änderungen ab«, erklärte der stellvertretende Pressesprecher.

So oder so: Der Baubeginn einer Ortsumgehung für Reiskirchen und Lindenstruth steht in den Sternen.

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Durch dieses Tal unterhalb von Lindenstruth soll die Trasse der Südumgehung führen - für die Gegner nicht nur aus Gründen des Naturschutzes eine Fehlplanung. Deshalb haben sie gegen den Planfeststellungsbeschluss Klagen eingereicht. Archivfoto: Böhm © Volker Böhm

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