Abendstunden in Gießen: Leere Straßen und Gassigeher
Auf ein Bier beim virtuellen Stammtisch und Schrauben am alten Kart: Viele Gießener entdecken im Lockdown neue Hobbys oder alte wieder.
Von Klaus-Dieter Jung
Nix los auf der Gass': In den Abendstunden liegt auch die Gießener Straße in Wieseck wie ausgestorben da. Foto: Jung
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GIESSEN - Es ist ruhig gewesen in den Nächten seit der Ausgangssperre Mitte Dezember, die der Landkreis inzwischen wieder aufgehoben hat. Nur vereinzelt waren Menschen unterwegs - wohin sollten sie auch? Diese Zeitung hat Bürger in den Stadtteilen befragt, wie sie die Abende zuhause verbringen.
Für Martin Viehmann, der in Wieseck lebt, war die nächtliche Ausgangssperre von 21 bis 5 Uhr keine Beeinträchtigung. "Es ist nicht die Zeit, abends etwas zu unternehmen." Zum Stammtisch des Vespa-Clubs Gießen kann er nicht gehen und auch sein Fünfziger-Jahrgang pausiert. Doch die Vespa-Kollegen sieht er wöchentlich beim virtuellen Stammtisch auf ein Bier aus dem eigenen Kühlschrank. Der Rödgener Frank Balser widmet die Abende seinen Hobbys. Sein altes Kart hat er in der Werkstatt aufgebockt, schraubt daran und sucht, welche Fehler den Motor nicht zum Laufen bringen. Auch sortiert er Dias und beschäftigt sich mit seiner Modelleisenbahn.
Nicole und "Hexe"
An jenem Abend biegt um 21.01 Uhr die Streife der Ordnungspolizei Richtung Lützellinden ab, um zu schauen, ob sich die Vorstädter an die Vorschriften halten. Vorläufig wird das jetzt nicht mehr nötig sein. Dunkel ist es da schon auf dem Parkplatz beim Rewe- Markt Lemp in Kleinlinden. Um 20.30 Uhr, eineinhalb Stunden früher als vor den erneuten Lockdown-Maßnahmen, schließt der Markt. Die Kunden wollen rechtzeitig vor 21 Uhr zu Hause sein. Unterwegs ist Nicole Daniel mit ihrem Hund "Hexe", auch nach 21 Uhr. Sie darf das, wie andere Hundehalter auch, und fällt unter die Ausnahmeregelung der Verfügung des Landkreises. Meist dreht die Kleinlindener Bürgerhauswirtin noch eine Runde um das Bürgerhaus, das im Dunkeln liegt und nicht öffnen darf. Die im Moment beschäftigungslose Gastronomin hat Verständnis für die Ausgangssperre und findet sie "richtig und wichtig. Mich stört das überhaupt nicht". Gleichzeitig wünscht sie sich, dass bald die Normalität wieder einkehrt, eine gewisse Langeweile kommt schon auf, schließlich stand sie sonst Abend für Abend im Lokal. In der Frankfurter Straße in Kleinlinden geht eine warm eingepackte Frau mit ihrem Hund noch eine Runde, nur wenige Autos sind unterwegs. Meist sind es Lieferfahrzeuge, die Essen auch noch in den späten Abendstunden zu hungrigen Kunden bringen. In Rödgen läuft ein junger Mann, er drückt sich hinter den Autos an den Hauswänden vorbei, als plage ihn ein schlechtes Gewissen.
Der Linienbus fährt am Bürgerhaus vor, ohne Fahrgäste ist er seit der Haltestelle in der Rödgener Straße unterwegs, verrät der Busfahrer. Einen Gelenkbus steuert auch Patrick Nietzel durch die Stadtteile. Fahrgäste trifft er nur vereinzelt an den Haltestellen, es sind meist Leute, die von der Arbeit kommen oder dorthin müssen. Für den Buslenker, der das schon seit sieben Jahren tut, ist es eine ungewöhnliche Situation. "Es ist ruhig und chillig", sieht er die angenehme Seite in den Abendstunden. Die Polizeipräsenz sei höher, hat er beobachtet. Selbst wurde er noch nicht angehalten, wenn er vom Dienst nach Hause fuhr. Die Gießener Straße in Wieseck ist wie ausgestorben. Nur eine junge Frau mit Rucksack tritt mächtig in die Pedale und der Rollerfahrer mit heißem Essen in seiner Transportbox will schnell seinen Kunden beliefern. So ist der "Blitzer" quasi arbeitslos.
An der Ladesäule
Ein schwarzer Kater huscht über die Fahrbahn in der Heide in Kleinlinden, er darf das. Gegenüber führen zwei Passanten ihren Hund aus, der ein leuchtendes Halsband trägt. Allendorf scheint auch schon zu schlafen, die Ampel an der Baustelle versieht dennoch ihnen Dienst. 113 freie Plätze weist der Parkplatz am Autohof in Lützellinden aus, einzig ein E-Auto holt sich Energie an der Ladesäule. Das Restaurant ist beleuchtet - aber geschlossen, und an der Tankstelle bereitet ein Lkw-Fahrer sein Gefährt für den Arbeitsbeginn vor. Reges Treiben findet sich dagegen im Gewerbegebiet Rechtenbacher Hohl, wo große Lastwagen beladen werden und ein Kommen und Gehen zu beobachten ist. Kurz vor 23 Uhr rollt der Linienbus durch Lützellinden, nirgends wird er erwartet, biegt nach Allendorf ab und kann auch dort ohne Passagiere seine Fahrt ans andere Ende der Stadt bis nach Rödgen fortsetzen.
Eine separate Statistik über Vorkommnisse in den Stadtteilen führt die Stadt nicht, teilt Magistratssprecherin Claudia Boje mit. Die Stadtteile werden alle von der Ordnungspolizei angefahren, aber nicht extra erfasst. Das Erfreuliche: "Besondere Vorfälle gibt es nicht, die Bürgerinnen und Bürger sind insgesamt sehr kooperativ." Busse waren uneingeschränkt auch nach 21 Uhr bis Betriebsende unterwegs. Stadwerke-Sprecherin Ina Weller: "Wir verzeichnen eine geringere Inanspruchnahme in den Sperrstunden als sonst, wollen aber das Angebot unverändert bestehen lassen, da es ja doch einige Menschen gibt, die mit dem Bus zur Arbeit und zurückfahren."