Arbeitsstelle Holocaustliteratur der JLU Gießen stellt grausames Schicksal vor
Maria Gabrielsen und ihre Geschwister überlebten die Deportation nach Theresienstadt. Angezeigt wurden sie von ihrer Mutter. Die schrecklichen Erlebnisse hat die Arbeitsstelle Holocaustliteratur veröffentlicht.
Von Heidrun Helwig
Grausames Schicksal: Maria Gabrielsen beim Signieren ihres Buches. Foto: Publikation
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GIESSEN - Das Überleben der Geschwister war ein Wunder. Getrennt voneinander hatten alle sieben das "fürchterliche Dasein" in Theresienstadt ertragen, hatten Hunger, Kälte und Misshandlungen durchgestanden und sich gleich nach der Befreiung durch die Rote Armee wiedergefunden. Doch kaum zurück in ihrer Heimatstadt Wien, erfuhren sie alsbald von dem grausamen Verrat: Ihre eigene Mutter hatte den Vater angezeigt "und in die Gaskammer von Auschwitz befördern lassen". Denn sie wollte "den Juden loswerden", um einen "glühenden Nationalsozialisten" heiraten zu können. Dabei war ihr auch die einst geliebte Kinderschar im Weg. Die drei Ältesten diffamierte sie bei der Gestapo und ließ sie in ein Arbeitslager schicken. "Die Jüngsten brachte sie in einem jüdischen Kinderheim unter, was in der Realität nur die erste Station auf dem Weg zu der geplanten Judenvernichtung war."
Doch nachdem die Rettung der fünf Mädchen und zwei Jungen für reichlich Schlagzeilen gesorgt hatte, wollte die Verräterin ihre Kinder urplötzlich zurückhaben - womöglich um dadurch an Unterstützungsleistungen zu gelangen. Dadurch kamen schließlich Ermittlungen ins Rollen, die zu einem der erschütterndsten Gerichtsprozesse der österreichischen Nachkriegszeit führte. Von dieser Familientragödie erzählt Maria "Mitzi" Gabrielsen in "Angezeigt von Mama. Die Geschichte einer Denunziation", das pünktlich zum 20-jährigen Bestehen der Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) der Justus-Liebig-Universität (JLU) auf Deutsch erschienen ist. Damit ist es erneut gelungen, ein schier unfassbares Schicksal im Rahmen der "Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur" dem Vergessen zu entreißen.
"Aufgepäppelt" in Norwegen
Erstmals wurde die Geschichte von Maria Gabrielsen und ihren sechs Geschwistern im Jahr 2006 in Norwegen veröffentlicht. Dahin war das 13-jährige Mädchen im Sommer 1947 gemeinsam mit Kurt und Annie - den beiden jüngsten Kindern - zum "Aufpäppeln" geschickt worden. Dort lebte sie bei Pflegeeltern, erhielt die Staatsbürgerschaft und heiratete später einen Norweger. Und da AHL-Mitarbeiterin Elisabeth Turvold aus Norwegen stammt und obendrein auch als Übersetzerin tätig ist, war schnell die Idee entstanden, eine deutsche Fassung als fünfte Publikation der Schriftenreihe zu edierenUnd noch zwei weitere Bände sollen in diesem Jahr erscheinen. "Die Zeitzeugen haben in den letzten Jahrzehnten eine enorme Rolle in der öffentlichen Erinnerung, im Gedenken und vor allem auch in der Bildungsarbeit gespielt", heißt es in der Vorrede zum ersten Band. Doch die Epoche der Zeitzeugen neigt sich dem Ende zu. "Die vielfältigen Zeugnisse der Ermordeten wie der Überlebenden jedoch bleiben." Ihren Tagebüchern und Erinnerungen, Romanen und Erzählungen, Gedichten und Dramen sowie deren Erforschung sollen die "Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur" auch in Zukunft ein Forum garantieren.
FEIER ZUM 20-JÄHRIGEN BESTEHEN
Die Erinnerung wachhalten, den Überlebenden eine Stimme geben: Seit zwei Jahrzehnten setzen die Arbeitsstelle Holocaustliteratur (AHL) der JLU und die Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung zu Lich alles daran, Zeitzeugen des Holocaust zu Wort kommen zu lassen - direkt und indirekt im Rahmen von Veranstaltungen, in der Literatur und Kunst.
Gemeinsam feiern AHL und Chambré-Stiftung am Donnerstag, 22. November, ab 19 Uhr im Vorlesungssaal in der Alten Unibibliothek (Alte UB) in der Bismarckstraße 37 ihr 20-jähriges Bestehen. Die Veranstaltung ist öffentlich.
Dabei werden die Journalistin und Publizistin Dr. Franziska Augstein, Prof. Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, der Schriftsteller David Safier und Prof. Sybille Steinbacher, Leiterin des Fritz Bauer Instituts, Goethe-Universität Frankfurt, in einem Podiumsgespräch die aktuelle Erinnerungskultur erörtern.
Antje Tiné vom Stadttheater Gießen wird zudem Auszüge aus Ruth Klügers autobiographischem Werk "weiter leben" lesen.
Darüber hinaus haben die überaus produktiven Gießener Wissenschaftler erst vor Kurzem mit "HolocaustZeugnisLiteratur" eine spannende und bundesweit viel beachtete Sammlung mit dem - zum Geburtstag passenden - Untertitel "20 Werke wiedergelesen" vorgelegt.
Eindrücklich beschreibt "Mitzi" Gabrielsen, die 1934 als fünftes Kind geboren wurde, dass zunächst "sowohl Mama als auch Papa alles in ihrer Macht stehende taten", um den kleinen Jungen und Mädchen "ein harmonisches Zuhause zu bieten". Der jüdische Vater arbeitete in der heimischen Wohnung als Schneider. Die katholische Mutter war zum Glauben des Ehemannes konvertiert. "Aber es war keinesfalls so, dass sie die verschiedenen Gebote des Sabbats und die anderen Regeln des Judentums sklavisch eingehalten hätte." Erste dunkle Wolken zogen auf, als deutsche Soldaten am 12. März 1938 in Österreich einmarschierten. Und damit "schlich sich unmerklich das nationalsozialistische Gift" auch dort in das gesellschaftliche Leben ein. Das einst gute Verhältnis zu den Nachbarn kühlte ab, die finanzielle Situation und auch die Versorgungslage spitzten sich zu. Der Vater wurde zur Zwangsarbeit eingezogen, die Mutter musste Gelegenheitsjobs übernehmen. "Was eigentlich mit Mama geschah, werden wir wohl nie erfahren", schreibt "Mitzi" Gabrielsen in dem schmalen Band, der aus der Sicht des Kindes die schmerzlichen Ereignisse in kurzen Kapiteln schildert und sich gerade deshalb vortrefflich zur Schullektüre eignet. Ergänzt wird "Angezeigt von Mama", durch ein einordnendes Nachwort von Dr. Markus Roth, dem stellvertretenden Leiter der AHL.
Übergriffe mit Teppichklopfer
Das Verhalten der Mutter gegenüber den sieben Kinder jedenfalls wird immer unberechenbarer, ihr "fürchterliches Temperament" entlädt sich unzählige Male in Übergriffen mit dem Teppichklopfer. Als sich die drei Ältesten im September 1941 weigern, den "Judenstern" zu tragen, informiert sie die Gestapo. Und als sie sich schließlich in einen Nationalsozialisten verliebt, wirft sie ihren Mann aus der gemeinsamen Wohnung. Als er es später ablehnt, die Scheidungspapiere zu unterzeichnen, denunziert sie ihn als Jude und Kommunist. Michael Schwarz wird am 25. November 1943 in Auschwitz ermordet. "Aber es kam uns nie in den Sinn, dass es ihr nächster Zug sein würde, uns loszuwerden - ihre Kinder." Die Mädchen und Jungen zwischen 21 und sechs Jahren werden - über verschiedene Zwischenstationen - letztlich alle ins Getto Theresienstadt verschleppt. Das Leben dort "war ein Albtraum von Ungeziefer und Schmutz gepaart mit schimmeligem Brot, dünner Suppe und verdorbenem Wasser", schreibt "Mitzi" Gabrielsen.
Und trotz der glücklichen Rettung aller sieben Geschwister erwartete die Kinder in Wien ein weiteres Unglück: der Tod des Vaters und der Prozess gegen die Mutter, die auf Grundlage des Kriegsverbrechergesetzes zu fünf Jahren Kerkerhaft verurteilt wurde. Vor Gericht hatte sie ihre Schuld geleugnet und dem - inzwischen verstorbenen - Liebhaber die Verantwortung zugeschoben. 1962 versuchte sie gar noch, eine Entschädigung zu erwirken, weil sie ihren Mann in Auschwitz verloren hatte. Natürlich vergeblich.
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Maria "Mitzi" Gabrielsen mit Oddvar Schjolberg: Angezeigt von Mama. Die Geschichte einer Denunziation. Herausgegeben von Markus Roth und Elisabeth Turvold, Metropol Verlag: Berlin 2018 (Studien und Dokumente zur Holocaust- und Lagerliteratur, Band 5), 138 Seiten, 16 Euro.