Auch an Hochschulen in Gießen Spagat zwischen Kind und Forschung
Sie war die erste - und bislang einzige - Frau, die den Nobelpreis gleich zweimal bekam. Nach der Deutschlandpremiere des Films ""Marie Curie - Elemente des Lebens" stand die Frage "Warum brauchen wir gerade heute Vorbilder wie Marie Curie in der Wissenschaft?" im Mittelpunkt einer Online-Diskussion.
Von Heidrun Helwig
Beginn einer großen Liebe und erfolgreichen Forschungsgemeinschaft: Marie (Rosamund Pike) trifft in Paris ihren späteren Mann Pierre Curie (Sam Riley). Foto: StudioCanal/dpa
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GIESSEN. Mit geradezu eiserner Beharrlichkeit hat die junge Polin an ihrem Traum festgehalten. Energisch hat sie sich gegen die Feindseligkeiten - und wohl auch den Neid - ihrer männlichen Kollegen zur Wehr gesetzt. Und dank ihres Talents, ihrer Neugier und ihres Fleißes war Marie Curie (1876-1934) nicht nur die erste Frau, die den Nobelpreis entgegennehmen konnte. Sie war auch die Erste - und bislang Einzige - der die Krone der Wissenschaft gleich zweimal zugesprochen wurde. Bereits dreimal wiederum wurde ihr Leben verfilmt. Und nun hat die in Frankreich lebende Iranerin Marjane Satrapi mit "Marie Curie - Elemente des Lebens" eine vierte Filmbiographie auf die Leinwand gebracht. Zum Bundesstart ging im Anschluss an die Vorführung eine von Barbara Streidl (Vorstand des Vereins Frauenstudien München) moderierte digitale Diskussionsrunde der Frage nach: "Warum brauchen wir gerade heute Vorbilder wie Marie Curie in der Wissenschaft?". Auch im Kinocenter in der Bahnhofstraße war das bis nach Österreich ausgestrahlte Live-Gespräch zu sehen, und über die Sozialen Medien konnte sich das Publikum daran beteiligen.
Lehrerin gab Anstoß
Gleich zu Beginn gab die Physikerin Kathrin Valerius eine eindeutige Antwort. Die Wissenschaftlerin forscht seit rund 15 Jahren auf dem Gebiet der experimentellen Astroteilchenphysik und leitet seit Mitte 2014 eine Helmholtz-Nachwuchsgruppe am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seit März 2020 hat sie an der renommierten Einrichtung zudem eine Professur zu ihrem Spezialgebiet inne. Ihr "erstes Rollenvorbild" sei schon auf dem Gymnasium in der Mittelstufe ihre Physiklehrerin gewesen. "Sie hat damals in ihrer Freizeit eine ,Jugend forscht'-Gruppe etabliert und damit aktiv an die Wissenschaft herangeführt." Obendrein habe die Pädagogin den Schülerinnen, die an dem Projekt teilgenommen haben, eine Biographie der österreichischen Kernphysikerin Lise Meitner geschenkt, die 1926 als außerordentliche Hochschullehrerin an der Berliner Universität Deutschlands erste Professorin für Physik wurde. "Und so fing für mich dieser Stein an zu rollen." Zwar habe sie kurz vor dem Abitur noch überlegt, ob sie doch zu Fremdsprachen wechseln sollte, letztlich entschied sich Kathrin Valerius aber für die Physik. Ihrer Lehrerin ist sie noch heute freundschaftlich verbunden.
Weibliche Identifikationsfiguren sind auch für Maike Röttger, Vorsitzende der Geschäftsführung von "Plan International Deutschland", entscheidend, um überholte Rollenbilder auszutauschen. "Ich wusste immer, dass Marie Curie für uns alle Unermessliches geleistet hat, aber durch den Film ist mir noch einmal klar geworden, was das für eine mutige Frau war." Sie sei bereit gewesen, mit allen Konventionen zu brechen, um ihr Recht auf Bildung und Forschung wahrzunehmen. "Wir brauchen Mut, um Veränderung zu erreichen, und wir müssen die Welt nachhaltig verändern. Das geht aber nur mit Gleichberechtigung." Dabei sollten die Vorbilder durchaus "larger than life" - also überlebensgroß - sein. Die Journalistin erinnerte daran, dass derzeit rund 743 Millionen Mädchen weltweit nicht die Schule besuchen können. Für sie sei es ungeheuer wichtig, sich an erfolgreichen Frauen orientieren zu können - keineswegs nur an Nobelpreisträgerinnen.
Vor große Schwierigkeiten stellt Forscherinnen noch immer die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Karriere. "Ihr wissenschaftlicher Lebenslauf, der Schwung der Veröffentlichungen wird durch Mutterschaft geradezu perforiert", gibt Moderatorin Barbara Streidl zu bedenken. "Das wird zwar inzwischen akzeptiert", ergänzte Prof. Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Und fügte hinzu: "Aber es ist tatsächlich nicht so, dass man damit dann noch den Nobelpreis gewinnen könnte." Es sei deshalb erforderlich, diesen Frauen mehr Zeit einzuräumen, "beispielsweise das Lehrdeputat zu reduzieren oder sie von Gremienarbeit zu entlasten." Möglich sei auch "ein zusätzliches Sabbatical". Im Moment gebe es lediglich eine Gegenrechnung bei der Anzahl von Publikationen und von Kindern. "Die Lücke im Lebenslauf bei Publikationen wird wahrgenommen von Kommissionen, die über die Besetzung von Professuren entscheiden", konkretisierte Kathrin Valerius. Und dann bleibe es eben eine individuelle Entscheidung, ob damit eine renommierte Position übernommen werden kann. "Allerdings erlebe ich es in meiner Arbeitsgruppe immer häufiger, dass sich auch junge Väter die Zeit für die Familie nehmen. Also, dass nicht mehr die ganze Erziehungszeit der Mutter obliegt."
Marie Curie hatte ebenfalls mit dem Spagat zwischen Kinderzimmer und Forschungslabor zu kämpfen. Offenkundig war sie aber auch selbst ein Vorbild für ihre beiden Töchter: Die ältere Irène wurde selbst Wissenschaftlerin und erhielt 1935 gemeinsam mit ihrem Ehemann Frédéric Joliot für die Entdeckung der künstlichen Radioaktivität den Nobelpreis für Chemie. Die sieben Jahre jüngere Ève wurde eine erfolgreiche Schriftstellerin und Journalistin. Sie legte 1938 die erste Biographie über ihre berühmte Mutter vor.
Jutta Allmendinger ist indes überzeugt, dass nach wie vor "der Heiratsmarkt besser bezahlt als der Arbeitsmarkt". Sie hat das Verhältnis zwischen Witwenrente und der selbst erarbeiteten Rente von Frauen untersucht und festgestellt, dass Erstere noch immer deutlich höher sei. Die einzige Chance, diesem Dilemma entgegenzuwirken, "ist, Geld in die Hand zu nehmen". Im Klartext: Viele Wissenschaftlerinnen investieren meist rund die Hälfte ihres Einkommens in Kinderbetreuung. Zudem müssten sich die Eltern als "Team" verstehen und Mütter unbedingt "Hilfe akzeptieren".
Auf die Nachfrage aus dem Publikum in Wien, ob Professoren heutzutage noch derart feindselig auf weibliche Konkurrenz reagieren wie in dem Film von Marjane Satrapi, der im Original übrigens den Titel "Radioactive" trägt, antwortete Jutta Allmendinger: "Das würde sich heute niemand mehr getrauen. Aber es gibt durchaus noch Vorbehalte und nicht so etwas wie einen Vertrauensvorschuss gegenüber jungen Frauen, gerade wenn sie Kinder haben."
"Mehrheitlich Männer"
Der Wissenschaftsbetrieb werde nach wie vor von Männern getragen, die mehrheitlich auf den Professuren sitzen. "Das System ändert sich verdammt langsam." Generell stimmt Kathrin Valerius dieser Einschätzung zu, sie berichtete aber auch, dass ihr persönlicher Werdegang von der großen Unterstützung von älteren männlichen Kollegen gekennzeichnet sei. "Es ist im Großen und Ganzen erschreckend, dass noch immer so wenige Frauen in meinem Feld Professuren besetzen."
Für das Jahr 2020 haben schließlich alle drei Diskutantinnen eindeutige Rollenvorbilder ausgemacht, die Maike Röttger auf den Punkt bringt: "Wenn wir mal darauf schauen, welche Nationen im Moment sehr gut durch die Corona-Krise kommen, dann ist sehr auffällig, dass das Länder sind, die von Frauen regiert werden." Und die Staaten, in denen "bestimmten Typen von Männern" das Sagen haben, "gar nicht so gut zurechtkommen". Auch dafür gab es im Kino "Broadway" hörbaren Applaus, allerdings hätten Film und Diskussion doch mehr als ein knappes Dutzend Zuschauer verdient gehabt.
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Der Film "Marie Curie - Elemente des Lebens" von Marjane Satrapi mit Rosamund Pike und Sam Riley in den Hauptrollen läuft im Kinocenter in der Bahnhofstraße täglich jeweils um 17 und um 20.15 Uhr (Mittwoch, 22. Juli, nur um 17.15 Uhr) und ab Donnerstag, 23. Juli, für eine Woche jeweils um 18 auch im Kino Traumstern in Lich.