Christine Preißmann gibt fachliche und persönliche Einblicke in "ihre Normalität" mit dem Asperger-Syndrom
Dr. Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Sie ist nicht nur eine gefragte Autismus-Expertin, sondern auch selbst Autistin.
Von Julian Spannagel
Autisten fallen meist in der Kommunikation als "anders" auf: Mimik und Gestik können nicht erkannt und angewandt werden. Alltagssituationen wie Handwerker im Haus oder Freundschaften aufbauen führen zu Unsicherheit und Angst.
(Symbolfoto: Elena Schweitzer)
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GIESSEN-KLEINLINDEN - Dr. Christine Preißmann ist Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Sie ist nicht nur eine gefragte Autismus-Expertin, die Fachartikel und Bücher schreibt, sondern auch selbst Autistin. In ihrem Vortrag "Leben mit Autismus" gab sie daher neben ihrem fachlichen Wissen auch einige persönliche Einblicke in "ihre Normalität" mit dem Asperger-Syndrom. Ihr Ziel: Die Vielfalt des Autismus bekannter machen und Vorurteile abbauen. Weit über 100 Interessierte hatten sich zu der Veranstaltung des Therapieinstituts Langen ins Bürgerhaus Kleinlinden eingefunden.
Autismus hat eine große Bandbreite an Erscheinungsformen und ist in seiner Ausprägung individuell unterschiedlich. Unterschieden wird im Wesentlichen zwischen dem Asperger-Syndrom, dem frühkindlichen und dem atypischen Autismus. Wobei der Übergang fließend ist und auch die Ursachen nur unzureichend ausgemacht sind. Wenngleich frühere Studien darauf hindeuten, dass Autismus eine deutlich genetische Komponente hat. Deshalb werde mittlerweile eher eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert. Der Anteil an Menschen in Deutschland, die damit leben, liegt bei rund einem Prozent der Bevölkerung - deutlich mehr als lange angenommen.
Viele Jahre in Ungewissheit lebte auch Christine Preißmann, die erst im Alter von 27 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom erhielt. Aus ihrer Sicht ein Glücksfall - nicht zuletzt dadurch, dass sie jahrelang angefeindet worden war und mit ansehen musste, wie das Leben der Menschen um sie herum an ihr vorbeizog. Wie viele andere Menschen mit Autismus kämpfte sie mit typischen Auffälligkeiten, etwa im Kontaktverhalten und sozialer Interaktion. "Es fällt uns schwer, auch wenn wir uns für andere interessieren", weiß Preißmann. Hinzu kommen auch Schwierigkeiten mit Mimik, Gestik und Blickkontakt, was in Kombination mit motorischer Ungeschicktheit meist dazu führe, kritisch beäugt oder gar gemobbt zu werden.
"Menschen mit Autismus sind oft ängstlich, haben ein geringes Selbstvertrauen und merkwürdig erscheinende Interessen", erklärt die Ärztin, die eine Vorliebe für die Weihnachtszeit hat. Während ihrer Schulzeit habe sie sich außerdem, als gleichaltrige Mädchen über ihre Klassenkameraden sprachen, lieber mit den Flugplänen der Lufthansa auseinandergesetzt, erzählte die Expertin unter dem Lachen des Publikums. Die Reaktionen ihrer Mitschüler damals war allerdings alles andere als amüsant. Sie wurde ausgegrenzt und dafür benutzt, Verbotenes zu machen oder beispielsweise Lehrer zu ärgern. Auch Letztere leisteten ihren Beitrag - indem Preißmann etwa als abschreckendes Beispiel dazu gezwungen wurde, laut vorzulesen. Anders als ihren damaligen Mitschülern fällt es ihr bis heute schwer, größere Zusammenhänge zu verstehen. Dabei sind es häufig die Details, auf die es ankommt und die Menschen mit Autismus oft erkennen. Dies kann aber auch zu Reizüberflutungen der Sinne führen. So sind viele Autisten besonders gut darin, Fehlerquellen zu entdecken, etwa in Texten. "Mein Lektorat hat da nicht so viel Arbeit mit mir", schmunzelt Preißmann. Von einer Empfehlung geeigneter Arbeitsbereiche sieht sie allerdings ab, da es viele Autisten gebe, die erfolgreich in augenscheinlich unpassenden Jobs sind. Vielmehr komme es auf die Rahmenbedingen an, um Tatsachen wie dem Anteil von Menschen mit dem Asperger-Syndrom ohne Arbeit mit 80 bis 90 Prozent entgegenzuwirken.
Immer wieder verweist sie auf die Individualität von Autismus, dem man mit entsprechend individuellen Lösungen entgegenwirken müsse. Oft helfe eine geordnete Strukturierung durch feste Ansprechpartner und Abläufe, eindeutige Anweisungen oder Dinge einfach anzusprechen und eigenes Verhalten zu hinterfragen. Oder wer kann schon nachvollziehen, was es für Ängste auslösen kann, wenn man gerne spazieren geht und "um 18 Uhr alle Bürgersteige hochgeklappt werden?"
Preißmann appelliert, die Anliegen autistischer Menschen ernst zu nehmen und auch im Privaten für eine Ausgewogenheit zwischen Kontakt- und Rückzugsmöglichkeiten zu sorgen. Vor allem aber solle man Autisten nicht ihre Spezialinteressen wegnehmen, die für sie Entspannungsmöglichkeiten sind. Christine Preißmann hat mittlerweile gelernt, dass es bei Rot an einer Kreuzung besser ist, das Fenster zu schließen, wenn sie mitten im Sommer Weihnachtslieder hört und dabei auch gerne mitsingt. Vielleicht hilft es aber bereits, als Gesellschaft Menschen mit Autismus nicht als Anderes zur Normalität zu verstehen, sondern sie als Teil von dieser zu akzeptieren. Oder, um es mit den Worten von Christine Preißmann zu sagen, es dem gleichzutun, wie Menschen mit Autismus ihrem Umfeld begegnen - offen, ehrlich und unter Zurückstellung von Vorurteilen.