Debatte an JLU Gießen: "Rassismus gibt es auch in Deutschland"
In einer virtuellen Diskussion der JLU über die "Grenzen in Zeiten der Pandemie" wird deutlich, dass es trotz zahlreicher gesellschaftlicher Probleme, auch etwas Grund zur Hoffnung gibt.
Von David Hopper
Kein Schutz vorhanden: Afghanische Flüchtlinge liegen mit ihren Familien nach ihrer Ankunft aus dem Lager von Moria auf einem zentralen Platz. Symbolfoto: dpa
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GIESSEN. Obwohl sich die Grenzübergänge langsam wieder öffnen, bleiben andere, weniger gut sichtbare Trennlinien im Kampf gegen die weltweite Corona-Pandemie wohl noch auf längere Zeit bestehen. So ließe sich - etwas überspitzt - die virtuelle Debatte zum Thema "Grenzen in Zeiten der Pandemie" zusammenfassen, bei der auf Einladung des Zentrums für Medien und Interaktivität (ZMI) und des Instituts für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität (JLU) erneut über die gesellschaftspolitischen Konsequenzen der aktuellen Pandemie diskutiert wurde. Neben den zahlreich entstandenen gesellschaftlichen Problemen gibt es jedoch auch Grund zur Hoffnung.
"Wir sind nicht, wie so oft zu hören ist, alle gleich vor der Pandemie." Mit dieser Feststellung legte die Gießener Politikwissenschaftlerin Dr. Regina Kreide (JLU) gleich am Anfang des Live-Chats den Grundstein der Diskussion, in der unter ihrer Moderation das EU-Parlamentsmitglied Erik Marquardt, der Philosoph und Menschenrechtsaktivist Thomas Seibert sowie die Amerikanistin Prof. Greta Olson und Medizinhistoriker Privatdozent Dr. Michael Knipper (beide JLU) zu Wort kamen. Insbesondere Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankungen, aber auch Geflüchtete oder Frauen, die durch die Pandemie-Situation in alte gesellschaftliche Muster gedrängt würden, seien laut Kreide ungleich stärker von der weltweiten Krise betroffen.
Eine weitere benachteiligte Gruppe rückte im Anschluss Greta Olson in den Fokus. So treffe das Virus in den Vereinigten Staaten besonders die afroamerikanische Bevölkerung "auf mehrere Weise hart". Sowohl das Risiko einer Ansteckung als auch das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs sei in afroamerikanisch dominierten Wohngegenden um ein Vielfaches höher. Viele Afroamerikaner seien zudem auf Jobs angewiesen, die kein Home-Office ermöglichten.
"Menschenunwürdig"
Von den aktuellen Ereignissen in ihrem Heimatland zeigte sich die US-Bürgerin Olson, die anlässlich der Beisetzung des durch Polizeigewalt getöteten Afroamerikaners George Floyd in schwarz gekleidet war, sichtlich bewegt. In Deutschland müsse man jedoch vorsichtig sein, rassistisches Verhalten nur in den USA zu kritisieren. "Rassismus gibt es auch in Deutschland", so Olson.
Die internationalen humanitären Konsequenzen der Pandemie schilderten Erik Marquardt und Thomas Seibert. Während Seibert, der sich für die Hilfs- und Menschenrechtsorganisation "Medico International" insbesondere für die Menschenrechte in Süd- und Südostasien einsetzt, die Auswirkungen auf die globalen Lieferketten anprangerte, durch deren Zusammenbruch Millionen Arbeitskräfte der südasiatischen Textilindustrie in die Arbeits- und Obdachlosigkeit gestoßen worden wären, kritisierte Erik Marquardt die Zustände an den Außengrenzen der EU. Die dortige Situation beschrieb Marquardt, der sich als Fotojournalist und Mitglied der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament intensiv mit der dramatischen Situation im griechischen Moria und anderen Flüchtlingslagern auseinandersetzt, als "menschenunwürdig".
Vorkehrungen gegen eine Verbreitung des Corona-Virus gebe es dort kaum. Hilfe käme, wenn überhaupt, von Hilfsorganisationen, die dabei teils auf starken Widerstand der Politik stießen. Von dieser käme trotz regelmäßiger Debatten nichts. "Man fragt sich, wo die Handlungsfähigkeit der Politik ist, solche Probleme zu lösen", resümierte Marquardt daher konsterniert.
Von einigem Nutzen bei der Bekämpfung des Virus und seiner gesellschaftlichen Konsequenzen könne laut Medizinhistoriker Michael Knipper der historische Vergleich sein. "Es gibt ein paar Muster, die wir immer wieder antreffen". So gingen Demokratien meistens besser mit Pandemien um als Diktaturen. Dass populistische oder wissenschaftsfeindliche Regierungsformen tendenziell schlechter auf Pandemien reagieren, sah Knipper dabei mit Blick auf die Politik Bolsonaros oder Trumps bestätigt. "Das kostet in großem Maße Menschenleben."
"Starker Widerstand"
Neben allen gesellschaftlichen Problemherden bemerkten die Diskussionsteilnehmer jedoch auch erfreuliche Entwicklungen. So sei laut Greta Olson in den vergangenen Wochen eine "ungeheure demokratische Energie" in der Bevölkerung entstanden, die auch traditionell unpolitische Kreise erfasse. Diese zu nutzen, sei, so Regina Kreide in ihrem abschließenden Statement, von großer Wichtigkeit. "Es gibt ein Potential zur gesellschaftlichen Veränderung. In diese Richtung sollten wir weiterdenken."