Eine Online-Diskussionsrunde der Gießener Linken zu Bühnenkünstlern und Kulturveranstaltern in der Corona-Krise zeugte von einer dramatischen Situation für viele Betroffene.
Von Björn Gauges
Kann den Künstlern derzeit keine Bühne bieten: das Gießener Stadttheater. Foto: Wegst
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GIESSEN - Seit fast einem Jahr schränken die Lockdowns eins und zwei das Leben der Menschen im ganzen Land auf unterschiedliche Weise ein. Denn während das Publikum seitdem darüber klagt, dass es weder Theater und Konzerte noch Märkte und öffentliche Feste besuchen kann, geht es für viele Akteure selbst längst um die berufliche Existenz. Bei einer von der Gießener Linken veranstalteten Online-Diskussionsrunde unter dem Titel "Kunst & Kultur sind mehr Wert!" berichteten die freie Schauspielerin und Regisseurin Irina Ries sowie der Eventmanager Karlheinz Skorwider von der Lage ihrer krisengeschüttelten Berufsgruppen und von ihrem ganz persönlichen Dilemma.
Im Gespräch mit Moderatorin Melanie Tepe und dem hessischen Linken-Bundestagsabgeordneten Jörg Cezanne (Groß-Gerau) schilderte die in Gießen lebende Ries, wie die Krise vielen Bühnenkünstlern "die Lebensbasis entzieht", zumal sie schon vor Corona aufgrund schmaler Gagen vielfach wenig Puffer haben ansparen können. Nun seien die Aufträge komplett weggebrochen, die Einnahmensituationen noch schlimmer geworden. Zur Einordnung: Der deutschlandweite Tarifvertrag im Bereich Darstellende Künste sehe für öffentliche Träger wie etwa Staatstheater monatlich bescheidene 2000 Euro brutto vor. Und auch wenn das Land Hessen im vergangenen Jahr beschlossen habe, diese Mindestgage auf 2300 Euro anzuheben, lasse sich davon keine Familie ernähren.
Sie selbst hatte mit "Heute Abend: Lola Blau" ein Solostück einstudiert, das kurz zuvor in Gießen Premiere gefeiert hat. Durch die Schließung der Bühnen im März wurden weitere geplante Vorstellungen kurzfristig abgesagt "und kehren wohl auch nicht mehr auf den Spielplan zurück", wie Irina Ries vermutete. Ihre viele Vorbereitungsarbeit war damit finanziell weitgehend umsonst. Zudem haben etwa Kulturvereine, die vereinbarte Gastspiele durch Fördermittel bezahlen wollten, keine Ausfallhonorare leisten können. So war etwa in einem Fall eine ausgehandelte Gage von 800 Euro für sie und ihren musikalischen Bühnenpartner "einfach weg", berichtete die Landesvorsitzende der GDBA (Genossenschaft deutscher Bühnen-Angehöriger). Der Staat habe freien Bühnenkünstlern wie ihr, die mit eigenen Programmen von Ort zu Ort wechseln, in dieser kritischen Situation "zuwenig Kompensation geleistet".
Ebenso bedrohlich zeigt sich die Lage in der Veranstaltungsbranche, wie sie Karlheinz Skorwider schilderte. Der Biebertaler Eventmanager, der etwa Mittelaltermärkte auf dem Schiffenberg organisiert, berichtete von den Reaktionen seiner Kollegen in einer Bandbreite zwischen "Aussitzen über Hinnehmen bis hin zu ernsthafter Verzweiflung". Auch hier habe es bereits zuvor kaum Möglichkeiten gegeben, Rücklagen zu bilden. Und nun "kommt seit einem Jahr gar kein Geld mehr rein." Skorwider beklagt ebenfalls, dass die staatlichen Hilfen nicht ausreichten oder zu spät ausgezahlt worden seien. "Und bei uns gibt es auch nicht die Möglichkeit der Kurzarbeit. Da fällst du direkt in Hartz-IV."
Equipment wird verkauft
So seien schon einige Existenzen kaputtgegangen, was sich daran zeige, dass manche ihr "Equipment für ein' Appel und ein Ei verkaufen". Fahrzeuge, Technik, Zelte würden weit unter Wert abgegeben, weil in der Branche niemand mehr vorhanden ist, der ihnen ihr Eigentum zu fairen Preisen abnehme. Hinzu kommt: "Wenn du einmal raus bist, kommst du nicht wieder rein." Skorwider erinnerte daran, welche Bereiche alle zur Eventbranche gehören: "Bauzaunverleih, Hygiene, Sicherheit, Marketing, Promotion. Es sind ja viele Gewerke." Als Marktveranstalter, der im vergangenen Jahr allerdings nicht ein einziges Event auf die Beine stellen konnte, bekomme er im Kontakt mit vielen Markthändlern dramatische Situationen mit. "Es gibt Kollegen, die räumen mittlerweile im Rewe die Regale ein. Das macht einen schon traurig." Er selbst geht auch nicht davon aus, im ersten Halbjahr 2021 noch eine Veranstaltung organisieren zu können. Weil die Branche aber oft Monate voraus planen und in finanzielle Vorleistung treten müsse, gleichzeitig aber ein Ausfallrisiko trage und derzeit nicht wisse, wie und wann es weitergeht, stecke sie "in einer unglaublich fiesen Situation".
Der Linken-Bundestagsabgeordnete Jörg Cezanne erklärte, dass seine Partei zunächst angetan von der Bereitschaft der Bundesregierung gewesen sei, schnell und mit großen Summen zu helfen. "Das hatten wir so nicht unbedingt erwartet." Doch habe die Unterstützung für kleine Gewerbetreibende und freie Künstler und Kulturschaffende von Anfang an nicht gestimmt. Für diese Personengruppe seien nur laufende Kosten übernommen worden, die sie von Büro und Studiomiete hatten. "Aber als Schauspielerin hat man kein eigenes Studio. Da lebt man vom Einkommen." Cezanne beklagte, dass die Politik bei diesem Punkt bis heute nicht weitergekommen sei. Dass sich die Berliner Regierungskoalition "so hartleibig zeigt und die Leute sehenden Auges in Insolvenz und Armut laufen lässt, das finde ich erschütternd".