„Ei Gude“ soll locker klingen

Belauschen auch Alltagsgespräche: die Wissenschaftler Lars Vorberger und Carolin Kiesewalter. Foto: Coordes Foto: Coordes
MARBURG - Den mehr als 120 Jahre alten Satz über die bösen Gänse mag Lars Vorberger vom Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas besonders gern. „Mein liebes Kind, bleib hier unten stehen, die bösen Gänse beißen dich tot“, lautet er auf Hochdeutsch. 1887 schickte ihn der Marburger Bibliothekar Georg Wenker in einem Fragebogen mit 40 Sätzen an alle 50 000 Dorfschulen des damaligen Deutschen Reiches. Mit der traumhaften Rücklaufquote von 99 Prozent übersetzten die Lehrer die Sätze in die örtlichen Dialekte. Wenker übertrug die Ergebnisse in 1650 handgezeichnete Dialektkarten, die heute im digitalen Wenker-Atlas zu finden sind. „Keine andere Sprache der Welt hat eine vergleichbare Erhebung“, sagt Sprachwissenschaftler Alexander Werth.
Heute ist der Marburger Sprachatlas nicht nur die weltweit älteste Einrichtung seiner Art, sondern auch ein „Leuchtturm der Sprachdynamikforschung“, so Unipräsidentin Katharina Krause. Aktuell untersucht das renommierte Forschungsinstitut in einem Langzeitprojekt mit 15 Millionen Euro die Struktur der modernen Regionalsprachen, die den Dialekt inzwischen auf breiter Front ablösen. „Meist wird irgendetwas zwischen Dialekt und normierter Sprache gesprochen“, erläutert Vorberger, der sich vor allem mit Hessen beschäftigt. „Der Regiolekt bestimmt den kommunikativen Alltag.“ Um die Veränderungen in der Regionalsprache zu erfassen, wurden seit 2008 rund 700 Menschen an 150 Orten in ganz Deutschland befragt. Dieses Mal waren es aber nicht die Dorfschullehrer, die einen Fragebogen ausfüllen: In jedem Ort wurden – um sie gut vergleichen zu können – ältere Landwirte oder Handwerker, mittelalte Polizisten sowie Abiturienten interviewt und in alltäglichen Lebenssituationen belauscht. Die Sprecher gaben Sätze in ihrem tiefsten Dialekt und ihrem besten Hochdeutsch von sich.
Schmelztiegel
In Hessen waren 15 Orte dabei – darunter Biedenkopf, Gießen, Bad Nauheim und Dillenburg in Mittelhessen. Marburg eignet sich angesichts des hohen Anteils von Studierenden und Zugezogenen nicht so gut für die Analyse. Die Universitätsstadt ist eher ein Übergangsgebiet und ein Schmelztiegel mit Hang zum Hochdeutschen. Dagegen wird im Hinterland noch relativ viel Dialekt gesprochen.

„Gelle“ versteht jeder. Die anderen Dialekt-Wörter wie „Hinkbodder“ oder „Bullesje“ sind da schon schwieriger. Foto: Coordes Foto: Coordes
Inzwischen ist das Material von 700 Sprechern aufgenommen – mindestens zwei Stunden pro Person, dazu noch die Fragebögen mit 40 alten Wenker-Sätzen. „Das ist ein riesiger Datenschatz“, sagt Vorberger. Systematisch werden die Aufnahmen nun transkribiert und nach Phonetik, Syntax und Morphologie untersucht. Bis das Langzeitprojekt abgeschlossen ist, wird es noch bis 2027 dauern. Man kann aber bereits jetzt sagen, dass die jüngere Generation in der Regel nur noch Regiolekt spricht. Häufig ist es sogar so, dass das, was Dialekt-Sprecher als hochdeutsch empfinden, von den Jüngeren als Dialekt wahrgenommen wird, berichtet Vorberger. Auch die früher oft betonten Unterschiede zwischen benachbarten Dörfern sind aus der Sicht der Sprachwissenschaftler gar nicht so groß. „Die kleinräumigen Unterschiede gehen verloren“, sagt Vorberger. „Hessen bietet die komplexeste Sprachlandschaft, die wir haben, weil wir auf relativ kleinem Raum relativ viele Dialekte finden“, sagt Vorberger. Klar ist, dass sich der Frankfurter Dialekt seit Jahren von Süden her ausbreitet. Inzwischen wird er selbst in Gießen schon gesprochen. Und Dialektwörter wie „Ei Gude“ werden sogar bewusst von Menschen eingesetzt, um locker zu wirken.
NEUBAU GEPLANT
Im November soll der erste Neubau für den Campus Firmanei am Fuß der Oberstadt eröffnet werden - das 10,5 Millionen Euro teure Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. Eine breite Treppe verbindet das gläserne Foyer mit Galerien, Büros, Seminar- und Laborräumen in den oberen Geschossen. Bibliothek, Archive und Vortragssäle haben im Erdgeschoss Platz. Dazu gibt es eine Terrasse mit Blick in den Alten Botanischen Garten. (gec)
Der Trauer um das „Aussterben der Dialekte“ schließt man sich im Sprachatlas übrigens nicht an. „Wir sagen, dass sich die Sprache weiterentwickelt“, erklärt Vorberger: „Aber Regionalität bleibt als sprachliches Merkmal.“