Erinnerungen an den "einzig erträglichen Ort" in Gießen
Der vor wenigen Tagen verstorbene Autor Guntram Vesper hatte enge Verbindungen nach Mittelhessen. An Gießen, Reiskirchen und Steinheim bei Hungen wird unzählige Male in seinem Werk erinnert.
Von Helwig Helwig
Flucht aus "Frohburg": Als Jugendlicher kam Guntram Vesper mit seiner Familie ins Notaufnahmelager nach Gießen. Archivfoto: dpa
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GIESSEN - An "die "Besuche im Keller des Scarabä (!), Riegelpfad, an der Bahnstrecke nach Grünberg und nach Hungen", hat sich Guntram Vesper auch nach Jahrzehnten noch erinnert. Zumal im zweiten Stock des Hauses später sein jüngerer Bruder Ulrich mit der Ehefrau wohnte. "Am Eingang des Scarabä mußte man den Studentenausweis vorzeigen, wir hatten keinen, schlüpften aber jedesmal durch und saßen zwischen den immatrikulierten und eingeschmuggelten Lebenskünstlern und hörten die gängigen Platten, alles Amerika, überlaut oder schmalzig und immer passend", schreibt er in seinem späten Debütroman "Frohburg", der 2016 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämiert wurde. In der Kleinstadt südlich der sächsischen Metropole wurde Guntram Vesper 1941 geboren. Als er 16 Jahre alt war, flüchteten die Eltern mit den beiden Söhnen über Westberlin in die Bundesrepublik, ins Notaufnahmelager nach Gießen. Wenig verwunderlich also, dass auch die Zeit in der neuen Heimat für den Schriftsteller prägend war und sich in seinem umfangreichen Werk niedergeschlagen hat.
"Gießen war immer ein wichtiges Ziel für mich und meine Frau", hat der ausgezeichnete Autor, dessen Gattin aus Steinheim bei Hungen kommt, im Oktober 2016 bei einer Lesung im Literarischen Zentrum Gießen berichtet. Vor wenigen Tagen ist Guntram Vesper im Alter von 79 Jahren in Göttingen gestorben. Deshalb soll noch einmal an seine zahllosen literarischen Bezüge und die enge persönliche Bindung nach Mittelhessen erinnert werden.
Café Deibel beim Theater
Der Vater Wolfram war Landarzt und ließ sich mit seiner Frau - nach einem längeren Aufenthalt in der Notunterkunft am Rambachweg - in Reiskirchen nieder, wo er eine Praxis in der Gießener Straße übernahm. Die Söhne besuchten ein Aufbaugymnasium mit angegliedertem Internat in Friedberg: "Aufsicht, Wache, Ausgang. Speisemeister, Küchendienst. Dürftige Verpflegung. Und freitags nach Jahrgängen unter die Dusche", schildert er in dem Sammelband "Nördlich der Liebe und südlich des Hasses" aus dem Jahr 2017, in dem seine gesammelte Prosa erschienen ist. Die Wochenenden verbrachten die Beiden bei den Eltern, Sonntagabend ging es mit dem Zug zurück nach Friedberg.
WEITERE INFOS
Guntram Vesper: Frohburg. Frankfurt: Schöffling&Co. Verlagsbuchhandlung 2016, 1008 Seiten, 35 Euro (auch als Taschenbuch erhältlich).
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Guntram Vesper: "Nördlich der Liebe und südlich des Hasses". Frankfurt: Schöffling&Co. Verlagsbuchhandlung 2017, 688 Seiten, 32 Euro.
"Im Frühsommer dreiundsechzig machte ich den Versuch, in Gießen zu studieren", heißt es ebenfalls in einer der Erzählungen. "Wer die Stadt von damals kennt, weiß, daß der einzige erträgliche Ort das bis in die Nacht geöffnete Café Deibel hinter dem Theater war. Die ramponierten Möbel, die fleckigen braunen Tapeten, die löchrigen Lampenschirme stammten aus einer anderen Zeit und gehörten ihr weiter an, während das alte enge Gießen mit der Wohnung Büchners und dem Laboratorium Liebigs im Bombenkrieg beinahe restlos in Schutt und Asche gesunken war, nur der scheußliche Bahnhof blieb stehen." Etliche Male erwähnt Guntram Vesper in beiden Büchern auch den Gießener Anzeiger. Und so heißt es weiter: "Draußen wurde eine Stadt der späten fünfziger Jahre aus dem zitternden Boden gestampft, und das Deibel bot seinen Gästen alle Zeitungen der Welt, den Gießener Anzeiger gab es in fünf Exemplaren." Besonderen Eindruck hat ein Mitarbeiter des Lokals auf ihn gemacht: "Durch die dämmrigen Höhlen tappte ein betagter Ober in Schwarz und servierte das Leitungswasser umsonst."
Die Fächerkombination Germanistik und Geschichte hielt den Studenten aber nur für ein Semester an der Justus-Liebig-Universität, dann wechselte er nach Göttingen. Dort besuchte er Veranstaltungen in Medizin und vor allem in verschiedenen Geisteswissenschaften. Mit 22 Jahren brachte er den ersten Gedichtband heraus und entschied sich bald, als freier Schriftsteller zu leben. Neben Frohburg, Reiskirchen und Steinheim sollte Göttingen einer der Fixpunkte in seinem biographisch-familiären Schreiben werden.
"Wenn ich zwanzig Jahre später für eine Nacht oder ein paar Tage nach Reiskirchen kam, nicht mehr in das Dreißigerjahrehaus in der Gießener Straße, sondern in den Neubau der Eltern Am Stock, setzten wir uns zum Abendbrot in die Eßecke mit der Durchreiche zur Küche, Mutter hatte gewöhnlich, jedenfalls solange sie konnte, fünfhundert, sechshundert Gramm Thüringer Mett vom Fleischer an der Ecke der Burkhardsfelder Straße geholt, Vater und ich brachten den mit Ei und Zwiebeln angereicherten Aufstrich mehr als fingerdick auf die Brote", blickte er in seinem 1000 Seiten starken Roman zurück.
Lehrer an der Liebigschule
Der jüngere Bruder Ulrich war der zweiten Heimat treu geblieben, hat viele Jahre an der Liebigschule gearbeitet und bis zu seinem Tod in Kleinlinden gewohnt. Schon auf den ersten Seiten von "Frohburg" berichtet Guntram Vesper, wie er das Haus des geschiedenen Bruders räumen musste, "in dem sich zehntausend, vielleicht sogar zwölf- oder fünfzehntausend Bücher befanden, teils geordnet, größtenteils ungeordnet". Dabei vergegenwärtigt er sich neben den Kindheitserinnerungen auch das letzte Bild von Ulrich Vesper: "Wie er streng, beinahe finster im Abschiedsraum der Gießener Klinik lag, mit mir irgendwie unzufrieden, so sah es aus, ich mußte sterben, und du lebst weiter, konnte das heißen."
Mit Reihungen, Satzfragmenten und reizvollen neuen Seitentrieben entfaltet Guntram Vesper ein Erinnerungsgewebe, das historische Ereignisse ebenso aufnimmt wie die detailgetreue Beschreibung der Umgegend. Ohne Unterlass springt er zeitlich wie örtlich hin und her, kommt aber immer wieder zurück zur Familie. "Ich denke an Mutter. Gegen Ende hin stand sie einmal neben mir auf dem Balkon, unter uns das Wiesecktal, in unserem Rücken Vater, im Zimmer, rauchend, mit den Gedanken sonstwo, nur nicht bei Mutter. Ich kann nicht mehr kochen, sagt sie unvermittelt, halblaut, ich habe vergessen, wie es geht."
Erika Vesper stirbt 1990, der Vater überlebt sie um 13 Jahre: "Tod in der Kurzzeitpflege des Awo-Altenzentrums Albert-Osswald-Heim in Gießen, hinter dem Philosophenwald, einen Steinwurf weit weg von unserer Notunterkunft des Jahres 1958, Dreizimmerwohnung, drei Flüchtlingsfamilien, gemeinsame Küche, gemeinsames Klo."