Forscher der JLU Gießen suchen neue Antibiotika bei Termiten
Seit zehn Jahren baut Prof. Andreas Vilcinskas in Gießen die Insektenbiotechnologie auf. Weltweit sichtbares Leuchtturmprojekt ist das neue Fraunhofer-Institut.
Im Umfeld von Termiten suchen die Wissenschaftler nach neuen Antibiotika. Foto: Vilcinskas
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REGION - Prof. Andreas Vilcinskas hat einen anderen Blick auf Insekten. Seit zehn Jahren baut er die Insektenbiotechnologie auf, sowohl im Institut für Insektenbiotechnologie der Justus-Liebig-Universität Gießen als auch als Leiter des im Aufbau befindlichen Fraunhofer-Instituts für Bioressourcen. Im Interview spricht der Wissenschaftler über Antibiotikaforschung, die Bekämpfung von Viren und den Aufbau des neuen Fachs.
Was fasziniert Sie persönlich an Insekten?
Seit ich denken kann, sammele ich Insekten. Mit zwölf Jahren habe ich eine Insektensammlung angelegt und auch Fangtagebücher geführt. Die Faszination für Insekten hat schon sehr früh meinen Wunsch geweckt, Insektenforscher zu werden. Ich lebe jetzt meinen Traum.
Sie haben mal gesagt: Von Insekten lernen heißt siegen lernen. Was macht diese Tiergruppe so erfolgreich?
Wie definiert man denn Erfolg in der Evolution? Das am häufigsten verwendete Kriterium ist Biodiversität. Mit über einer Millionen beschriebener Arten sind die Insekten die artenreichste und damit die erfolgreichste Organismengruppe, die es gibt. Wenn wir verstehen, warum Insekten so erfolgreich geworden sind, können wir daraus für das Wohl der Menschheit lernen.
Welche Gründe gibt es dafür? Lässt sich der Erfolg für die Menschheit nutzbar machen?
Insekten haben in der Evolution sehr viele Wirkstoffe erfunden, mit denen sie sich gegen Krankheiten oder vor Fressfeinden schützen. Die Biodiversität, die wir auf Artenebene sehen, gibt es auch auf der Ebene der Moleküle. Insekten sind deshalb ein riesiger Wirkstoffschrank, den wir zum Wohle der Menschheit erschließen wollen. Daneben haben Insekten gelernt, sehr gut mit Mikroorganismen zusammenzuarbeiten. Sie haben oft Symbionten, die zum Beispiel Enzyme produzieren, mit denen sie sich unterschiedlichste Ernährungsweisen erschließen können. Beispiele sind das Fressen von Holz oder Kadavern. Viele Insekten nutzen Mikroorganismen, die ihnen Antibiotika zur Verfügung stellen, damit sie auch Lebensräume besiedeln können, in denen viele Krankheitserreger vorkommen. Es gibt Mikroorganismen, die ihnen Mittel für die Verteidigung liefern. So hat der asiatische Marienkäfer Mikroorganismen, die ihn mit Methoxypyrazin ausstatten, wodurch er schlecht schmeckt und von Vögeln, die ihn gefressen haben, wieder ausgewürgt wird. Das alles wollen wir nutzbar machen.
Krankenhauskeime mit Antibiotikaresistenzen wie MRSA sind seit Jahren ein Problem. Wie groß ist das Potenzial der Insektenbiotechnologie, es zu lösen?
Wenn nach Antibiotika gefahndet wird, dann werden bestimmte Mikroorganismen wie Streptomyceten sehr intensiv untersucht. Meine Idee war, die Mikrobengruppen zu untersuchen, die bisher noch nicht für die Naturstoffforschung erschlossen wurden. Sie sind aber nur schwer kultivierbar. Vor diesem Hintergrund ist es zielführend, Insekten anzuschauen, die mit diesen Organismengruppen assoziiert sind.
Wie hat das konkret funktioniert?
Als wir zum Beispiel das Immunsystem der Termiten untersucht haben, hatte dieses im Vergleich zu allen anderen Insekten, die wir vorher betrachtet haben, sehr wenige antimikrobielle Peptide, die Insekten vor Krankheitserregern schützen. Im Hinblick auf die Immunabwehr erschienen sie schwachbrüstig. Wie aber können sich die Termiten gegen Krankheiten verteidigen, wenn so wenige Abwehrmoleküle im Immunsystem sind? Da Termiten im Boden leben, wo es warm und feucht ist, wundert man sich, warum sie nicht dauernd krank werden. Diese Beobachtung inspirierte meine Vermutung, dass die Termiten mit Mikroorganismen assoziiert sind, die Antibiotika produzieren und so ihr Nest desinfizieren.
In welcher Weise haben Sie das untersucht?
Ein Freund von mir, der mit mir an der Freien Universität Berlin studiert hat, hat den größten Termitenzoo der Welt. In der Bundesanstalt für Materialprüfung leitet er die Abteilung, welche die Termitenfestigkeit von Materialien untersucht, und für diesen Zwecke züchten sie schon seit Jahrzehnten 30 Termitenarten. Deren Nester haben wir untersucht und geschaut, welche Mikroorganismen bei Termiten vorkommen. Dabei haben wir die Gruppen, die bisher in der Antibiotikaforschung vernachlässigt wurden, gefunden. Diese kultivieren wir jetzt und prüfen, welche Naturstoffe sie produzieren können, und hoffen, dass wir dabei auch neue Wirkstoffe finden, welche für die Entwicklung von Antibiotika geeignet sind. Dabei gehe ich davon aus, dass antimikrobiell wirksame Substanzen, welche die Krankheitserreger töten, ohne die Termiten zu schädigen, auch beim Menschen keine unerwünschten Nebenwirkungen zeigen.
Das Problem der Krankenhauskeime könnte gelöst werden?
Es geht darum, neue Antibiotika mit neuen Wirkmechanismen zu finden. Dabei lassen wir uns von der Natur inspirieren. Nach der langjährigen Zusammenarbeit mit der Firma Sanofi hat diese dem Fraunhofer Institut eine der weltweit größten Stammsammlungen mit Bakterien und Pilzen übergeben, die jetzt in Gießen für die Naturstoffforschung genutzt wird. Bisher wurde hauptsächlich an Mikroben geforscht, die unter anderem aus dem Boden oder in der Tiefsee isoliert wurden. Mikroorganismen konkurrieren miteinander und setzen dabei antimikrobielle Substanzen ein, um das Gegenüber zu töten. Das Problem für uns: Es gibt dabei keinen Selektionsdruck, der dafür sorgt, dass die Substanzen nicht schädlich auf höhere Organismen wirken. Wenn ich aber als Insekt im Darm Symbionten habe, die Antibiotika produzieren, dann wurden diese im Verlauf der Evolution so angepasst, dass sie dem Insekt nicht schaden. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in Insekten etwas zu finden, das effektiv Bakterien tötet, aber auch dem Menschen nicht schadet, ist deshalb höher.
Gibt es eine weitere Bioressource neben Stammsammlung und Insekten, an der Sie arbeiten?
Eine dritte große Bioressource, die ich jetzt aufbaue, sind die Tiergifte. Da sehe ich ein riesen Potenzial für die Zukunft. Es gibt über eine Millionen Tierarten, 200 000 davon gelten als giftig. In jeder Giftdrüse werden vermutlich zwischen 200 und 400 verschiedene Substanzen produziert. Konservativ geschätzt gibt es 20 Millionen Substanzen in Tiergiften, aber nur 16 000 wurden bisher untersucht und aus diesen resultieren inzwischen 18 Medikamente, die auf dem Markt sind. Das begründet meine Annahme, dass in Tiergiften ein großer Schatz an Wirkstoffen verborgen ist, den wir als Quelle für die Wertschöpfung in der Medizin erschließen wollen.
Ist es dafür notwendig, Gifttiere in größerer Menge zu halten?
Jeder, der an Gifttiere denkt, hat Bilder aus dem Fernsehen im Kopf, in denen über das "Melken" von Schlangen oder Skorpionen berichtet wird. Doch diese Herangehensweise an Erforschung von Giften ist aus meiner Sicht überholt. Wir haben in der Insektenbiotechnologie gelernt, wie wir neue Wirkstoffe aus Wundmaden isolieren und herstellen können, die zur Therapie von schlecht heilenden Wunden oder zur Behandlung von diabetischen Füßen eingesetzt werden. Wir müssen nicht eine große Anzahl von Gifttieren töten oder melken, um an deren Gifte zu kommen.
In welcher Weise arbeiten Sie?
Wir brauchen nur eine Giftdrüse, um herauszufinden, was diese produziert. Dabei nutzen wir moderne Methoden, mit denen die Gensequenzen von allen Peptiden und Proteinen ermittelt werden können, die diese herstellen kann. Mithilfe dieser genetischen Information können wir Bakterien, Hefen oder Insektenzellen so umprogrammieren, dass sie diese Wirkstoffe in so großen Mengen herstellen, dass wir deren Wirkung gegen antibiotikaresistente Bakterien oder Tumorzellen, für mögliche Anwendungen bei der Therapie von Sepsis, Schmerz oder Diabetes überprüfen können. So hat zum Beispiel eine australische Postdoktorandin Skorpione mitgebracht, die wir mit unseren Technologien untersucht haben. Wir sind dabei auf eine große Schatztruhe gestoßen. Eine Mitarbeiterin hat über die Giftdrüsen von Stechrochen promoviert und aktuell haben wir den Giftcocktail der einheimischen Wespenspinne analysiert.
Forschen Sie auch zum Coronavirus?
Als ich das Institut vor zehn Jahren konzipiert habe, sollte es über Alleinstellungsmerkmale verfügen, mit denen auch Forschungsgelder aus der Industrie eingeworben werden können. Da wir langfristig geplant haben, neue Antibiotika gegen resistente Mikroben und neue Wirkstoffe für die Behandlung von Virusinfektionen zu entwickeln, brauchte das neue Fraunhofer-Institut ein Sicherheitslabor der Stufe drei. Dieses leitet Dr. Kornelia Hardes, die gerade vom BMBF die Förderung einer eigenen Nachwuchsgruppe in der Infektionsforschung bewilligt bekommen hat. Ihre Forschungen an neuen Wirkstoffen gegen Grippeviren werden in den nächsten fünf Jahren mit 3,2 Millionen Euro gefördert. Davon profitiert nicht nur die Forschung gegen das Coronavirus, Dr. Hardes bereichert auch Gießen als Standort für angewandte Lebenswissenschaften.
Sie selbst sind seit zehn Jahren dabei, die Insektenbiotechnologie aufzubauen. Können Sie etwas zu den Anfängen dieses Forschungsfeldes sagen?
Im Grunde ist die Entomologie als Forschungsgebiet am Aussterben gewesen. Auch in Gießen hatte der Fachbereich früher vier Professuren für Entomologie. Am Schluss ist eine übrig geblieben. Aber die Ausschreibung, aufgrund derer ich nach Gießen gekommen bin, war so formuliert, dass man etwas Neues suchte. Jemanden, der das Fach Angewandte Entomologie neu interpretiert. Daneben gab es in ganz Hessen noch kein Fraunhofer-Institut, als ich hergekommen bin. Um solche Bund-Länder-finanzierte Max-Planck- oder Fraunhofer-Institute in Hessen anzusiedeln zu können, hat die Landesregierung die Landes-Offensive-zur-Entwicklung der wissenschaftlich-ökonomischen Exzellenz aufgelegt, die als Loewe-Programm bekannt geworden ist. Mithilfe dieses Exzellenzprogramms sollte an der JLU ein Fraunhofer-Institut aufgebaut werden, um unter anderem ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
Wie ging es dann weiter?
Der leider zu früh verstorbene ehemalige Präsident der JLU, Stefan Hormuth, und der damalige Direktor des Fraunhofer Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie, Prof. Rainer Fischer, haben damals die Insektenbiotechnologie als ideales Forschungsgebiet für den Aufbau eines Fraunhofer-Instituts in den Lebenswissenschaften identifiziert. Ich hatte damals eine Definition und den alternativen Begriff Gelbe Biotechnologie vorgeschlagen, den ersten Kongress mitorganisiert und die ersten Bücher zum Thema herausgegeben. Meine Argumentation für den Aufbau eines Fraunhofer-Instituts, das sich der Insektenbiotechnologie widmet, hat im Hinblick auf das mögliche wissenschaftliche und ökonomische Potenzial überzeugt. Aber am Anfang hatte ich ein Problem: Ich war der einzige Entomologie-Professor in Gießen und sollte einen Forschungsschwerpunkt auf diesem Gebiet aufbauen.
Was haben sie getan?
So war es nahe liegend, dass ich mit anderen zusammenarbeiten muss, und so baute ich mit meiner zunächst kleinen Fraunhofer-Projektgruppe, die 2010 zehn Mitarbeiter umfasste und die Gelbe Biotechnologie repräsentierte, die Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Medizin (Rote Biotechnologie), dem Pflanzenschutz (Grüne Biotechnologie) und der industriellen (weißen) Biotechnologie im Loewe-Schwerpunkt Insektenbiotechnologie auf, der vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst von 2011 bis 2013 mit 4,5 Millionen Euro gefördert wurde.
Welche weiteren Schritte waren es bis zum Fraunhofer-Institut?
Die im Loewe-Schwerpunkt initiierten Forschungen, die von den Gutachtern eine sehr positive Bewertung bekommen hatten, wurden anschließend im Loewe-Zentrum für Insektenbiotechnologie und Bioressourcen ausgebaut und vom HMWK in den sechs Jahren von 2014 bis 2019 mit insgesamt 36 Millionen Euro gefördert. Mit diesen hessischen Steuergeldern wurden das Institut für Insektenbiotechnologie an der JLU und das im Aufbau befindliche Fraunhofer-Institut in Gießen finanziert. Im Unterschied zu Max-Planck-Instituten bekommen Fraunhofer-Institute nur ein Drittel ihres Budgets als Grundfinanzierung vom Steuerzahler.
Wie läuft der Rest der Finanzierung?
Mindestens ein Drittel des Haushalts wird über Forschungsaufträge aus der Industrie erwirtschaftet und vor diesem Hintergrund ist es ein Riesenerfolg, dass weltweit führende Industriepartner wie Sanofi oder DowAgroSciences von Anfang an viele Millionen in Gießen investiert haben, um mit dem im Aufbau befindlichen Fraunhofer-Institut Spitzenforschung in der Medizin oder im Pflanzenschutz zu betreiben. Inzwischen addieren sich die Drittmittel, die über die Insektenbiotechnologie nach Gießen gekommen sind, auf über 110 Millionen Euro. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage "von Insekten lernen, heißt siegen lernen" für jeden nachvollziehbar.
Welche Bedeutung hat der Gießener Standort international?
Die Insektenbiotechnologie in Gießen hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Leuchtturm für die Wissenschaft entwickelt, der weltweit sichtbar ist und zunehmend millionenschwere Investitionen nach Gießen zieht. Ein Ziel des Loewe-Programms ist die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Fachhochschulen, und das ist im Rahmen des Loewe-Zentrums für Insektenbiotechnologie und Bioressourcen in vorbildlicher Weise gelungen. Sowohl die JLU als auch die Technische Hochschule Mittelhessen haben jeweils zwei neue Professuren geschaffen, um die gemeinsame Entwicklung in neue Spitzentechnologien zu fördern.
Wie wichtig war Zusammenarbeit?
Der Erfolg der Gelben Biotechnologie wäre ohne die Exzellenz der beteiligten Wissenschaftler nicht möglich gewesen. Dabei möchte ich stellvertretend für viele andere Kollegen die stellvertretenden Leiter des im Aufbau befindlichen Fraunhofer Instituts und des Loewe-Zentrums für Insektenbiotechnologie und Bioressourcen nennen: Ohne Prof. Peter Czermak, der an der Technischen Hochschule Mittelhessen als Direktor das Institut für Bioverfahrenstechnik und Pharmazeutische Technologie leitet, und Prof. Holger Zorn, der an der JLU als Direktor das Institut für Lebensmittelchemie und Lebensmittelbiotechnologie leitet, wäre es nicht möglich gewesen, diese Spitzenforschung in Gießen zu etablieren. Es ist ein Privileg, mit solchen exzellenten Wissenschaftlern gemeinsam für die Zukunft der hessischen Lebenswissenschaften zu gestalten und talentierte Nachwuchswissenschaftler nach Gießen zu ziehen.