Der schwedische Schriftsteller Steve Sem-Sandberg, der an der JLU für seinen Roman "Die Elenden von Lodz" recherchiert hat, entscheidet künftig über Vergabe des Literaturnobelpreises mit.
Von Heidrun Helwig
Diskussion im JLU-Seminar und Lesung im LZG: Der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg hat in Gießen mit seiner zurückhaltenden Art überzeugt. Archivfotos: Möller
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GIESSEN - Im Seminarraum hatte sich Steve Sem-Sandberg spontan in die Mitte gehockt. Zwischen die Studierenden. Denn das Gespräch sollte alle gleichberechtigt einbinden. Der schwedische Schriftsteller und Kritiker mochte an der Justus-Liebig-Universität (JLU) ganz offensichtlich nicht als Dozent auftreten. Vielmehr wollte er auf eigenen Wunsch im Sommer 2010 mit den jungen Leuten über seine Arbeit diskutieren. Und gemeinsam mit ihnen über die Vermischung von Fakten und Fiktion in der Literatur nachdenken.
Bei seinem nächsten Besuch an der Lahn war der Rahmen öffentlich und der zurückhaltende Bestsellerautor stand zwangsläufig im Mittelpunkt. Im Literarischen Zentrum Gießen (LZG) stellte er im November 2012 nämlich seinen ausgezeichneten Roman "Die Elenden von Lodz" vor. Neben Schauspieler Rainer Domke, der Passagen aus der deutschen Übersetzung vortrug, ließ sich Steve Sem-Sandberg auf dem kleinen Podest am Kopf des Saales nieder, direkt gegenüber dem Publikum. Und die Nervosität war ihm damals deutlich anzumerken.
Und nun wurde dem inzwischen 62-Jährigen gar eine feste Position zuerkannt, die ihn weltweit ins Rampenlicht rückt: In der Schwedischen Akademie, die alljährlich den Literaturnobelpreis vergibt, nimmt Steve Sem-Sandberg ab 20. Dezember den nummerierten Platz 14 ein. Diese ehrenhafte und verantwortungsvolle Berufung hat natürlich auch in Gießen für große Freude gesorgt. "Ich habe ihm sofort gratuliert", betont Prof. Sascha Feuchert auf Anfrage des Anzeigers. Und der Leiter der JLU-Arbeitsstelle Holocaustliteratur und Vorsitzende des LZG fügt hinzu: "Das hat Steve Sem-Sandberg mehr als verdient, denn er ist ein ungemein beeindruckender Schriftsteller."
Freude an der AHL
Tatsächlich stieß die Bekanntgabe des neuen Mitglieds des erlesenen Kreises, der in den zurückliegenden Jahren durch interne Querelen und den Rücktritt mehrerer Mitglieder in die Schlagzeilen geraten war, auf ungeteilte Zustimmung. Ebenso wie die zeitgleiche Berufung der Journalistin und Sachbuchautorin Ingrid Carlberg. "Zwei solide Neubesetzungen", titelte etwa die Süddeutsche Zeitung. "Beide stehen für ein Maß an Beständigkeit, sorgfältiger Arbeit und ästhetischer Qualität, das der Akademie fehlte, als sie, beginnend im Herbst 2017, von einem Skandal in den nächsten stürzte und zwischenzeitlich in ihrer Existenz gefährdet war." Und Mats Malm, der Ständige Sekretär und Sprecher der Akademie, würdigte den 62-Jährigen im schwedischen Fernsehen als "zentraleuropäischen Schriftsteller und herausragenden Kritiker". Steve Sem-Sandberg werde - ebenso wie Ingrid Carlberg - sehr wichtig in der künftigen Arbeit des Gremiums sein, das wegen der Anzahl seiner Mitglieder auch "Die Achtzehn" genannt wird.
Für Sascha Feuchert hat die neue Aufgabe des befreundeten Literaten allerdings auch einen gewichtigen Nachteil: "Wegen seiner Zugehörigkeit zur Akademie kann ihm nun nicht mehr selbst der Literaturnobelpreis zuerkannt werden." Bekannt ist der Schriftsteller für seine dokumentarischen Romane. Ins Deutsche übersetzt sind vier seiner Publikationen. "Theres" aus dem Jahr 1996, der sich dem Menschen Ulrike Meinhof nähert. "Die Erwählten" erschien 2014 und dreht sich um die Wiener Erziehungsanstalt, in der während des Zweiten Weltkrieges die Kinder schutzlos der Hölle des NS-Regimes ausgesetzt waren. In der Familiengeschichte "Sturm" von 2016 wird das Schweigen über die Vergangenheit seziert. An die JLU aber haben ihn die Arbeiten zu "Die Elenden von Lodz" geführt. Der Roman ist 2009 in Schweden mit dem August-Preis, der höchsten literarischen Auszeichnung des Landes, gewürdigt, und zwei Jahre später im Stuttgarter Verlag Klett-Cotta veröffentlicht worden.
Das Getto der Stadt Lodz, die von den Nationalsozialisten in Litzmannstadt umbenannt wurde, bestand von 1939 bis 1944. Dort wurde die aus verschiedenen Ländern verschleppte jüdische Bevölkerung unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht, als "Arbeitsmaterial" ausgebeutet und schließlich in die Vernichtungslager deportiert. Zur scheinbaren Normalität gehörten in dem mit Stacheldraht und Mauern umzäunten Wohngebiet auch die statistische Abteilung und das Archiv. Dort notierten etwa 15 Mitarbeiter - überwiegend Journalisten und Schriftsteller - die täglichen Nachrichten. Diese einzigartige Textsammlung hat die Liquidierung des Gettos im August 1944 überdauert und wurde von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur nach jahrelanger intensiver Quellenarbeit und in Kooperation mit polnischen Wissenschaftlern erstmals vollständig ediert. Und diese 2000 Seiten umfassende Chronik diente als dokumentarische Grundlage des Romans von Steve Sem-Sandberg.
Gleich zu Beginn seiner Recherchen hatte er zwei Wochen in Gießen verbracht. Hatte mit den Mitarbeitern beraten und Quellen gesichtet. Mehrfach zitiert er in den "Elenden von Lodz" aus den Tagesberichten. Zudem hat er weitere Quellen herangezogen, Gerichtsakten ausgewertet, Erinnerungsberichte gelesen und mit Zeitzeugen gesprochen. Aber der Autor bleibt nicht bei der Wiedergabe der Fakten stehen, er begibt sich darüber hinaus, erfindet Szenen, Ereignisse und Personen. Diese Freiheit der Literatur, "von den Fakten noch einen Schritt weiterzugehen habe in Schweden eine Tradition", schilderte er damals im Interview mit dem Anzeiger. In Deutschland werde darüber eher kontrovers geurteilt, und dem hatte sich Steve Sem-Sandberg ganz bewusst auch an der JLU gestellt. Zurückhaltend, konzentriert und bisweilen gar schüchtern. Dabei wurde schon im Sommer 2010 sehr deutlich, dass er lieber über seine Literatur spricht als über sich selbst.
"Nach Gießen einladen"
Deshalb hat der 62-Jährige der Zeitschrift "Dagens Nyheter" mitgeteilt, dass er sich zwar sehr "geehrt gefühlt" habe, den Platz in der Schwedischen Akademie angeboten bekommen zu haben, dass er aber zunächst darüber hätte nachdenken müssen, was das für ihn selbst bedeute. "Er hat per E-Mail erläutert, dass er ein sehr privater Mensch sei, der eher zurückgezogen lebt und das weiterhin gern tun möchte, auch wenn ihm klar ist, dass das nun möglicherweise schwieriger werden könnte", fasst Charlotte Kitzinger zusammen. Die Geschäftsführerin der Arbeitsstelle Holocaustliteratur spricht Schwedisch und hat für die Gießener Kollegen das Medienecho übersetzt. "Über Kristina Lugn, deren Platz 14 er nun nach ihrem Tod im Frühjahr übernommen hat, schreibt er, dass sie nicht nur eine große Poetin, sondern auch eine große Persönlichkeit gewesen ist. Niemand könne sie ersetzen." In der Abendzeitung "Aftonbladet" heißt es, die Entscheidung, die Berufung in die Akademie anzunehmen, sei ihm nicht leichtgefallen, da er nicht gern im Rampenlicht stehe. Es sei jedoch eine einmalige Gelegenheit, der Literatur zu dienen. Und das habe er nicht ablehnen können.
Sascha Feuchert hält es vor allem für bemerkenswert, dass mit Steve Sem-Sandberg und Ingrid Carlberg nun zwei Autoren mit über die Vergabe des Literaturnobelpreises entscheiden, die ihr eigenes Werk "der Erinnerungsarbeit verschrieben haben". Aus diesem Grund könnte diesem Aspekt des Schreibens künftig vielleicht eine stärkere Wertschätzung zukommen. Über diese Frage möchten die Mitarbeiter der Arbeitsstelle gern bald persönlich mit dem 62-Jährigen sprechen. "Wir werden ihn natürlich so schnell wie möglich wieder nach Gießen einladen."