Gießen: Dorothea von Ritter-Röhr war Mitglied der Enquete-Kommission zur Reform des Abtreibungsrechts
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die selbsterklärten Lebensschützer mit ihrem juristischen Erfolg gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel das Tor zu einer weitergehenden Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Deutschland geöffnet haben."Mit Goethe könnte man sagen, dass die Klageführer letztlich ein Teil jener Kraft sind, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", meint die Gießener Psychotherapeutin Dr. Dorothea von Ritter-Röhr. Sie könnte fast darüber schmunzeln, wenn das Thema nicht so ernst wäre.
Von Ingo Berghöfer
Mit einem Transparent fordern Demonstrantinnen am 24. November 2017 vor dem Amtsgericht in Gießen die Abschaffung des Paragrafen 219a. Die Gießener Ärztin Dorothea v. Ritter-Röhr setzte sich als Mitglied einer Enquete-Kommission des Bundestages bereits 1974 für eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ein. Foto: dpa
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GIESSEN - Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die selbsterklärten Lebensschützer mit ihrem juristischen Erfolg gegen die Gießener Ärztin Kristina Hänel das Tor zu einer weitergehenden Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Deutschland geöffnet haben. Seit dem Urteil steht der ihm zugrunde liegende Paragraf 219a des Strafgesetzbuches jedenfalls unter massivem politischen Beschuss. Gleich vier der sechs im Bundestag vertretenen Fraktionen wollen das derzeit geltende Gesetz ändern. Der rot-rot-grüne Senat in Berlin und bislang fast 156 000 Unterzeichner einer Online-Petition fordern die Streichung jenes Paragrafen, mit dem Abtreibungsgegner seit Jahrzehnten mit wechselndem Erfolg, gegen Abtreibungsärzte vorgehen. Das darf man dann wohl einen Pyrrhussieg nennen.
"Mit Goethe könnte man sagen, dass die Klageführer letztlich ein Teil jener Kraft sind, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", meint die Gießener Psychotherapeutin Dr. Dorothea von Ritter-Röhr. Sie könnte fast darüber schmunzeln, wenn das Thema nicht so ernst wäre. Ein Thema, das vor allem für Frauen ihrer Generation ein Lebensthema war. Am Kampf für ein liberaleres Abtreibungsrecht hat die heute 75-Jährige maßgeblich mitgewirkt. Sie war Mitglied der am 21. März 1974 einberufenen "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten Paragraf 218 des Strafgesetzbuches".
Im Laufe der 60er Jahre war das in Deutschland herrschende strikte Abtreibungsverbot gleich von vier Seiten unter Beschuss geraten. Im Zuge der allgemeinen gesellschaftlichen Liberalisierung der 60er Jahre, politisch angetrieben von der 68er-Bewegung, der durch die Erfindung der Pille entscheidend beförderten sexuellen Revolution, und einer immer selbstbewusster werdenden Frauenbewegung, wurden die Forderung nach einer Liberalisierung des Paragrafen 218 oder nach seiner kompletten Streichung immer lauter. Medialer Höhepunkt des Konflikts war das Titelbild des "Stern" vom 6. Juni 1971. Unter der Überschrift: "Wir haben abgetrieben!", bekannten sich 374 Frauen öffentlich zu ihrer Abtreibung.
Am 26. April 1974 entschied sich der Bundestag mit knapper Mehrheit für eine Reform. Nach der sogenannten Fristenregelung sollten Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich bis zur zwölften Schwangerschaftswoche straffrei bleiben. Nachdem diese Lösung am 25. Februar 1975 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, verabschiedete der Bundestag am 6. Mai 1976 die modifizierte Indikation. Sechs Jahre lang untersuchten die zehn Mitglieder der Enquete-Kommission die Auswirkungen der Liberalisierung. Untersucht wurden damals unter anderem die Einstellung der Bevölkerung zur Reform des Paragrafen 218, erinnert sich Ritter-Röhr, aber auch die Erfahrungen schwangerer Frauen mit der Handhabung der geänderten Vorschriften durch Beratungsstellen, Ärzte, Krankenhäuser und die für soziale Hilfen zuständigen Behörden und Organisationen, die Erfahrungen der Ärzte oder die flankierenden Maßnahmen bei Schwangerschaftskonflikten.
Gefahren ausgeschaltet
Das 1980 im Abschlussbericht veröffentlichte Fazit der Sachverständigenkommission war, dass die Reform des Paragrafen 218 Frauen mehr Möglichkeiten zur Lösung von Schwangerschaftskonflikten gebe und dem Schutz des ungeborenen Lebens besser diene als das frühere Strafrecht. Durch eine erhebliche Verringerung der illegalen Schwangerschaftsabbrüche würden zudem Gefahren für Leben und Gesundheit der Frauen weitgehend ausgeschaltet.
Im Vorfeld hatten vor allem Kirchenvertreter die Befürchtung geäußert, dass die Zurücknahme des Strafanspruches des Staates zu einem starken Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche führen werde, erinnert sich Ritter-Röhr, "aber das hat sich nach unseren Untersuchungen nicht bestätigt." Die Kommission habe deshalb für einen gezielten Ausbau von Beratungsangeboten und sozialen Hilfen plädiert, um so dazu beizutragen, Frauen die Entscheidung zur Austragung der Schwangerschaft zu erleichtern und die Zahl unerwünschter Schwangerschaften zu senken.
Die SPD/FDP-Bundesregierung lobte den Sachverständigenbericht, damals als wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion über die Reform des Paragrafen 218. Wie notwendig damals der von der Kommission geforderte Ausbau von Beratungsangeboten war, zeigte eine 1977 vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Ärztestudie, in der 50 Prozent der befragten Ärzte angaben, manchmal oder häufig ihre Patienten nach der Indikationsfeststellung in ausländische Kliniken zu vermitteln, weil es damals zu wenig Ärzte und Kliniken in Deutschland gab, die einen Schwangerschaftsabbruch vornahmen.
Die Bundesregierung folgerte 1980 aus dem Abschlussbericht der Kommission, dass eine Zusammenfassung von Sexualberatung, Beratung und Aufklärung über Familienplanung mit der Schwangerschaftskonfliktberatung sowie der medizinischen Beratung und nachsorgender Betreuung nach einem Abbruch helfe, den "von vielen Frauen als bedrückend und kompliziert erlebten Verfahrensweg" zu vereinfachen und dadurch die Bereitschaft der Frauen zu stärken, Beratung und Hilfen ohne Angst in Anspruch zu nehmen.
Die jetzt aufgeflammte Diskussion über eine Streichung des Paragrafen 219a zeigt nach Ansicht von Ritter-Röhr, wie weit wir trotz aller Verbesserungen leider noch immer von diesem Ziel entfernt seien. Das Haupthindernis auf dem langen Weg zu einem Abtreibungsrecht, das Frauen oder Ärzte nicht mehr kriminalisiert, fasst sie so zusammen: "Wer macht die Gesetze? Männer. Und da machen wir in unserer Gesellschaft im Moment eher Rückschritte. Da muss man sich nur mal die Zusammensetzung des aktuellen Bundestags anschauen." Wie habe das ihre damalige Doktormutter Helge Pross schon auf den Punkt gebracht: "Frauenfragen sind Männerfragen".
Besonders bewegt
Ritter-Röhr war damals auf Empfehlung von Pross und Horst-Eberhard Richter Mitglied der Enquete-Kommission geworden. Das Thema habe sie damals als frischgebackene Mutter ihres ersten Kindes besonders bewegt, "aber es war in meinem Leben als Tochter einer Gynäkologin und als Frau eines Gynäkologen stets präsent". Die stärkste Erinnerung, die Ritter-Röhr mit der Arbeit in der Enquete-Kommission verbindet, betrifft freilich nicht die Arbeit im Gremium. "Ich weiß noch, wie ich eines Abends von der Enquete-Kommission nach Hause kam und mein Mann stolz verkündete, dass unser Baby heute zum ersten Mal gelacht hat. Das hatte ich verpasst. Und darüber kann ich mich heute noch ärgern."