Gießen: Lesekompetenz bei Kindern in der "Abwärtsspirale"
Viele Kinder vor allem aus bildungsfernen Haushalten können nicht gut lesen. Die Corona-Pandemie hat das noch verstärkt. Das ist auch für den Gießener Verein "Mentor - Die Leselernhelfer" eine Herausforderung. Wie diese bewältigt wird und was es mit dem "Nationalen Lesepakt" auf sich hat, erklärt Dr. Amelie Haas im Interview.
Von Benjamin Lemper
Welches Buch nehme ich denn bloß? Leseförderung ist in jeder Altersstufe wichtig. Fotos: Mentor/Jürgen Schmidt-Lohmann
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GIESSEN - Wer lesen kann, ist klar im Vorteil! Diesen Spruch hat sicher jeder schon mal gehört - weil er mal hämisch, mal ironisch, mal humoristisch benutzt wird, um jemanden darauf hinzuweisen, etwas Offensichtliches übersehen oder nicht verstanden und deshalb vielleicht sogar einen Fehler gemacht zu haben. Aber natürlich ist an dieser Redewendung auch etwas Wahres dran. Denn Lesen bildet, eröffnet neue Perspektiven, ermöglicht Orientierung, gesellschaftliche Teilhabe, Integration und beruflichen Erfolg. Doch Studien belegen immer wieder, dass zu viele Kinder und Jugendliche vor allem aus bildungsfernen Haushalten nicht gut und flüssig lesen können. Die Corona-Pandemie - verbunden mit Schulschließungen und Distanzunterricht - dürfte diese Defizite noch verstärkt haben. Ein Anfang März initiierter "Nationaler Lesepakt" mit bundesweit 150 Partnern soll das nun ändern. "Erstes Ziel muss es sein, das Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig Leseförderung in jeder Altersstufe ist", betont Dr. Amelie Haas im Interview mit dem Anzeiger. Sie hat mit ihrer Kollegin Dr. Annika Kruse vor acht Jahren den Gießener Verein "Mentor - Die Leselernhelfer" ins Leben gerufen.
Warum braucht es einen "Nationalen Lesepakt"?
Lesen ist die Grundlage jeglicher Bildung, Selbständigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe. Und leider - wie Studien immer wieder zeigen - können Kinder und Jugendliche immer schlechter lesen. Offenkundig reichen die bisherigen Bemühungen also nicht aus, um die existenzielle Notwendigkeit einer gewissen Lesekompetenz allen Beteiligten so klar zu machen, dass eine Leseförderung in ausreichendem Maße angeboten wird. Unsere Hoffnung ist, dass durch dieses breite Bündnis quer durch alle Bereiche der Gesellschaft Kräfte und Kompetenzen gebündelt werden und das Thema Leseförderung noch viel stärker in den allgemeinen Fokus gerät. Davon profitieren wir als lokale Initiative dann auch.
Wie kann eine sinnvolle bundeseinheitliche Strategie aussehen?
Erstes Ziel muss es sein, das Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wichtig Leseförderung in jeder Altersstufe ist: Sie beginnt beim Vorlesen durch die Eltern und wird fortgeführt durch Angebote in Kitas und Schulen, Bibliotheken und Stadtteilzentren. Dafür ist der "Nationale Lesepakt" ein tolles Instrument, weil er als Zusammenschluss so vieler unterschiedlicher Akteure aus so vielen Bereichen der Zivilgesellschaft und der Politik eine große und öffentlichkeitswirksame Kampagne darstellt. Und er bringt natürlich viel Expertise auf dem Gebiet der Leseförderung mit; alle Beteiligten können hier noch etwas voneinander lernen. Da viele Initiativen auf ehrenamtlicher Basis stehen, muss es außerdem das Ziel sein, die Projekte langfristig gut zu vernetzen, von politischer Seite nachhaltig zu fördern und das Ehrenamt allgemein zu stärken.
Welches Buch nehme ich denn bloß? Leseförderung ist in jeder Altersstufe wichtig. Fotos: Mentor/Jürgen Schmidt-Lohmann
Dr. Annika Kruse und Dr. Amelie Haas haben vor acht Jahren den Verein "Mentor - Die Leselernhelfer Gießen" ins Leben gerufen. Foto: Jürgen Schmidt-Lohmann
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Was charakterisiert den besonderen Ansatz von "Mentor" und inwieweit kann dadurch die Lesekompetenz entscheidend gefördert werden?
Bei "Mentor - Die Leselernhelfer" liest immer ein Mentor mit einem Kind. Durch diese 1:1-Betreuung entsteht ein Vertrauensverhältnis, das den Lernerfolg entscheidend unterstützt. Zudem suchen sich Mentor und Lesekind ein eigenes Leseprojekt, das dem Kind Spaß macht. Denn nur, wenn das Kind Interesse an dem Text hat und Spaß in der Lesestunde, kann es Freude am Lesen entwickeln. Überhaupt soll der Spaß im Vordergrund stehen - kein Leistungsdruck, keine Erwartungen oder Kontrolle. Es soll gelesen, gesprochen, gespielt werden, alles rund um Wörter, Sprache und Lesen.
Wie ist die Resonanz?
Die allermeisten Kinder freuen sich sehr auf diese Lesestunde, die meistens im Anschluss an ihren Unterricht oder im Rahmen der Nachmittagsbetreuung stattfindet. Sie haben zwar meist keine Lust zu lesen, aber eine Stunde mit einem Erwachsenen, der keine Erwartungen hat, es nur gut meint und empathisch und wohlwollend ist, ist für die meisten Kinder echte "quality time", die sie sonst nicht so oft haben.
Wie hat sich die Corona-Pandemie mutmaßlich auf das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt?
Allgemein ist es wohl so, dass diejenigen Kinder, die vorher schon viel und gerne gelesen haben, in Pandemiezeiten mehr lesen, da sie einfach mehr Zeit haben. Allerdings zeigt unsere Erfahrung von denjenigen Kindern, die wir hier in Gießen betreuen, dass ihre Lesekompetenz leider stark abgenommen hat. Gerade in der Grundschule, also zu Beginn des Leselernprozesses, ist die stetige Übung von größter Bedeutung. Da die Kinder, die bei uns betreut werden, meist aus Familien stammen, in denen grundsätzlich nicht viel gelesen wird, findet diese Übung eigentlich in der Schule statt. Durch die langen Schulschließungen haben zu viele Kinder zu lange Zeit überhaupt nicht das Lesen geübt. Für Kinder, die ungern und schlecht gelesen haben, bedeutet Corona daher meist eine Abwärtsspirale in Bezug auf ihre Lesekompetenz.
Und wie haben all die Einschränkungen die Unterstützungsmöglichkeiten der Mentoren in Gießen beeinflusst?
Da die Treffen von Mentor und Kind in Normalzeiten in der Schule stattfinden, waren die Lesestunden erstmal abgesagt. Allerdings haben wir gleich zu Beginn der Schulschließungen im vergangenen Jahr begonnen, unsere Mentoren auf die vielen Möglichkeiten hingewiesen, mit dem Kind in Kontakt zu bleiben. Hilfreich war dabei, dass wir im Rahmen eines Pilotprojektes zu digitalem Lesen zehn iPads angeschafft hatten. Viele unserer 150 Mentoren sind mit ihren Lesekindern digital in Kontakt, lesen über "Zoom" oder "Facetime". Manche lesen auch einfach am Telefon, ohne sich zu sehen.
Und das funktioniert?
Für uns als Verein war das natürlich eine Herausforderung. Wir mussten Kontakt zu den Familien suchen, was sonst eigentlich immer über die Lehrerinnen und Lehrer läuft. Und wir mussten, und müssen es ja noch, viele Bücher in doppelter Ausführung anschaffen, damit Mentor und Kind jeweils ein Exemplar vorliegen haben. Aber der Aufwand lohnt sich!
Welche Pläne gibt es für die nächsten Monate?
In erster Linie müssen wir wohl flexibel bleiben und schauen, wie es mit den Schulöffnungen weitergeht. Derzeit sind die Grundschulen geöffnet. Einige Schulen möchten aber noch keine Ehrenamtlichen in die Schulen lassen, um die Kontakte zu minimieren. Vor allem möchten aber viele Mentoren, die meisten gehören ja zur Altersgruppe 65+, erst dann wieder in die Schule, wenn sie geimpft sind. Mit Normalbetrieb rechnen wir frühestens zu Beginn des nächsten Schuljahres. Und wir gehen davon aus, dass dann der Bedarf an Mentoren groß sein wird - viele Kinder werden viel nachzuholen haben. Wir freuen uns über jede Unterstützung und jeden, der einmal in der Woche eine Stunde Zeit hat, um einem Kind Freude am Lesen zu vermitteln.