Mit Wirkung zum 31. Dezember 2019 ist Gießen nicht mehr unter dem Schutzschirm des Landes Hessen. Der Magistrat will nun die Finanzpolitik für zehn Jahre neu aufstellen.
Von Stephan Scholz
Drei Jahre früher als ursprünglich vorgesehen verlässt die Stadt Gießen den Schutzschirm des Landes. Archivfoto: Friese
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GIESSEN. Eigentlich hätten Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz und Dr. Dirk During als Leiter der Kämmerei den Schutzschirm des Landes Hessen "gern durch die Vordertür verlassen". Dass es durch das Landesgesetz zum Corona-Kommunalpaket ein wenig anders gekommen ist, schmälert die gute Nachricht nicht: Mit Wirkung zum 31. Dezember des vergangenen Jahres ist Gießen nicht mehr unter dem Schutzschirm - drei Jahre früher als geplant. "Unser Credo war immer, dass es keine Schmälerung der Infrastruktur gibt, auch nicht in den Bereichen Soziales, Kultur und Sport. Wir wollten weiterhin eine attraktive Stadt bleiben", erinnert sich Grabe-Bolz an die Verhandlungen mit dem Land im Jahr 2012. Insgesamt habe Hessen der Stadt in der Schutzschirm-Zeit mit rund 110 Millionen Euro geholfen. "Das ist viel, das wissen wir auch zu schätzen, aber das Geld war auch kein Geschenk", betont die OB.
Investitionsprogramm
"Diese Entlassung ist für uns aber keine Stunde Null", führt die Sozialdemokratin aus. Der Haushaltsentwurf für das kommende Jahr orientiere sich noch an den Eckdaten des Schutzschirmvertrages. Dies sei eine sehr gute Grundlage für die künftige politische Arbeit, auch vor dem Hintergrund der Corona-Krise. "Noch ist sehr vage, wie es 2021 aussieht", umschreibt Grabe-Bolz die finanzielle Planungsunsicherheit der Stadt in Zeiten der Pandemie. Zugleich sei die nun erreichte Finanzlage eine gute Ausgangsbasis, um die Finanzpolitik der kommenden Dekade neu auszurichten. "Als ganz großes Thema haben wir Zukunftsinvestitionen in Bildung, Klimaschutz, Digitalisierung, Wohnen und begleitende Infrastruktur. Dabei kann es zu einer Nettoneuverschuldung kommen", erklärt die Politikerin. Die Neuausrichtung samt Investitionsprogramm bis 2030 werde der Magistrat noch in der laufenden Wahlperiode erarbeiten. "Für die Politik bedeutet dieses Programm Planungssicherheit", ergänzt During. Eine mögliche Neuverschuldung müsse aus Sicht der Oberbürgermeisterin in einem festen Rahmen stehen, den der Magistrat auf Grundlage fachlich ermittelter Bedarfe in Abstimmung mit der Aufsichtsbehörde definieren will. Gleichzeitig müssten mögliche neue Schulden im Ergebnishaushalt langfristig tragbar sein.
Mit der Stadt verlassen alle Kommunen den Schutzschirm, bei denen die Erfüllung der Konsolidierungsverträge zum 31. Dezember 2019 festgestellt ist, heißt es im Gesetz zum Corona-Kommunalpaket. Doch auch wenn Oberbürgermeisterin und Kämmerei-Leiter den Schirm lieber wie ursprünglich vorgesehen regulär und damit "durch die Vordertür" verlassen hätten, spricht Grabe-Bolz von einem historischen Moment. Sie erinnert daran, dass die Stadtverordnetenversammlung den Magistrat im April 2012 beauftragt hatte, Verhandlungen mit dem Land Hessen aufzunehmen. Den Antrag auf Konsolidierungshilfen habe die Stadt am 15. Juni desselben Jahres eingereicht, Grundlage seien Vorschläge der Stadt für Konsolidierungsmaßnahmen gewesen. Die OB berichtet von anschließenden harten Verhandlungen bei denen es am 3. Dezember 2012 im Rahmen eines Kompromisses zum Durchbruch gekommen sei.
Grundsteuer B
Nach Beschluss der Stadtverordnetenversammlung wurde der Konsolidierungsvertrag im Februar 2013 unterzeichnet. Als Ausgangspunkt habe das maßgebliche Defizit dieser Jahre in Höhe von 26 Millionen Euro gedient. Auf dieser Basis vereinbarten die Partner von Stadt und Land insgesamt 56 kleinere und größere Maßnahmen zu Ertragssteigerung und Ausgabenminderung. Abgesprochen worden war unter anderem die Anhebung des Hebesatzes der Grundsteuer B auf 600 Punkte. "Die Vertreter des Landes haben gesehen, dass wir viele Millionen Euro nicht nur durch Einsparen erreichen können", blickt Grabe-Bolz auf die Steuererhöhung zurück. Daneben standen unter anderem die Einführung der Zweitwohnsitzsteuer, die Reduzierung der Energiekosten durch Energiemanagement sowie eine Deckelung der Anzahl von Personalstellen an, wobei die Personalkosten angesichts wachsender städtischer Aufgaben mittlerweile wieder stiegen, erläutert Grabe-Bolz. Neben Landesmitteln, den Maßnahmen und der städtischen Haushaltsdisziplin habe sich auch die Ertragslage der Stadt im Vergleich zu den Jahren 2010/11 deutlich verbessert. Beispiel Gewerbesteuer: Während die Stadt noch 2010 rund 30,1 Millionen Euro erhielt, waren es im vergangenen Jahr 53,6 Millionen Euro, was Grabe-Bolz mit einer guten Firmenansiedlungspolitik in Verbindung bringt.