Gießener Anlagenring für einige Stunden (fast) autofrei
Die Aktion von Jörg Bergstedt und der Projektwerkstatt Saasen für ihre Vision einer autobefreiten Gießener Innenstadt fand viel Zuspruch. Verärgerte Autofahrer gab es nur wenige.
Von eik
Einige Impressionen der Aktion und Beteiligten.
(Fotos: Friese)
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GIESSEN - Die Geduld manches Autofahrers wurde am Samstagnachmittag in der Gießener Innenstadt auf die Probe gestellt, denn der Rückstau auf dem Anlagenring lag noch ein ganzes Stück über dem üblichen Wochenend-Level. Beide inneren Spuren des Ringes, von der Südanlage über die Westanlage zur Neustadt und der Neuen Bäuen, waren vorübergehend nur für Radler freigegeben. Ausnahmen gab es da nur für Busse und Anlieger, der restliche Verkehr musste sich mit zwei, statt der sonst üblichen vier Spuren begnügen. Auslöser für den automobilen Engpass war eine Fahrrademo, die für eine autofreie Innenstadt warb und mit dieser Aktion simulierte, wie es denn wäre, wenn der Autoverkehr aus der Stadt verbannt würde.
So konnten Fahrradbesitzer direkt testen, wie sich ein breiter Radweg rund um die Stadt anfühlen würde. Initiiert wurde die Aktion von Jörg Bergstedt und der Projektwerkstatt Saasen, die ihre Vision einer autobefreiten Innenstadt bewarben. Zu dieser Idee gehören ein Fahrradwegenetz, eine Fußgängerzonenerweiterung bis zum Bahnhof und Straßenbahnen, die als "RegioTram" auf den bisher stillgelegten Bahnstrecken wieder von der Innenstadt bis ins Umland für den Personennahverkehr sorgen. (der Anzeiger berichtete.)
Vom Stadttheater aus beteiligten sich mehr als hundert Fahrradfahrer, darunter Familien mit Kindern, die sich stützräderbewehrt auf ihren Rädern behaupteten, über Studentengruppen bis hin zu Senioren. Manche Teilnehmer ließen sich dabei nicht die Gelegenheit entgehen, explizit auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, indem sie entweder auf selbst geschweißten, originellen Eigenkreationen laut klingelnd radelten oder sich gleich selbst in äußerst extrovertierten Kostüme warfen. Sönke aus Gießen, der auf seinem blumengeschmückten Klapprad mitfuhr, meinte: "Gerade für eine Unistadt wie Gießen wären Fahrradstraßen wichtig. Und wenn das in Münster klappt, dann kann das doch auch hier funktionieren". Ein voll besetztes, zehnsitziges Bierbike schloss den bunten Zug um den Anlagenring ab. An den großen, verkehrsintensiven Kreuzungen beim Elefantenklo und am Neustädter Tor nutzte Bergstedt die Situation, um die Ideen der Projektgruppe zu verdeutlichen. So seien beispielsweise die vielen Parkhäuser am Anlagenring nach deren Ansicht viel besser dazu geeignet, in Wohnraum umgewandelt zu werden.
Nach dem Demonstrationszug verwandelte sich der Abschnitt der Südanlage vor dem Stadttheater in eine Partymeile. Sitzecken aus Sperrmüllmöbeln gaben der Straße ein loungiges Ambiente und urbane Beats transformierten den Asphalt zum nachmittäglichen Dancefloor. Eine Apfelpresse und ein Stand der Food-Sharer halfen gegen Hunger und Durst, eine Umsonstlotterie wurde veranstaltet, verschiedene Aktionsstände rund ums Fahrrad waren vertreten und eine Fahrradwaschanlage stand bereit. Aber auch andere Organisationen wie Greenpeace und Seebrücke, die Grüne Jugend und die MLPD nutzten die Gelegenheit zur Präsentation. Der Großteil des auf zwei Spuren verdichteten Autoverkehrs nahm die Aktion, abgesehen vom vereinzelten Hupen und zwei dicken Motorrädern, die kurz demonstrativ aufdrehten, entspannt auf. Auf Höhe der Musikanlage kurbelte eine Wagenlenkerin neugierig ihr Fenster runter und rief: "Was is'n des hier für 'e Party?," um gleich hinterherzuschicken, dass sie nachher noch mal mit dem Rad vorbeikommen wolle. Und John Lennon sang fast prophezeiend: "You may say I'm a dreamer, but I'm not the only one, I hope someday you will join us and the world will be as one" ("Du wirst wohl sagen, ich sei ein Träumer. Ich bin jedoch nicht der Einzige. Ich hoffe, Du machst eines Tages bei uns mit, und die Welt wird eins sein.")