Sonntag,
03.06.2018 - 10:30
7 min
Gießener Insektenbiotechnologe Prof. Marc Schetelig beriet Bestsellerautor Frank Schätzing
Von Ingo Berghöfer

Im Labor: Der Biotechnologe Marc Schetelig sucht nach neuen Wirkstoffen im bis heute noch immer kaum erforschten Reich der Insekten. Frank Schätzing holte sich bei ihm Rat für sein neues Buch. Fotos: Berghöfer
GIESSEN - Der Feind greift in der Abenddämmerung an. Sein Opfer hat sich in die schattigen Bäume unten am Fluss zurückgezogen, um dort seine Wunden zu kühlen. Das wird ihm zum Verhängnis.
Der Angreifer ist gerade mal acht Millimeter groß. Sein Körper changiert metallisch glänzend zwischen blau, grün und schwarz. Die überdimensionierten Augen leuchten in sattem Orange. In nicht mal 20 Minuten legt der Ektoparasit bis zu 300 Eier in das rohe Fleisch. Fehlen offene Wunden, pflanzt er seine Verderben bringende Saat aber auch schon mal neben den Nabel von Neugeborenen. Bis zu 2800 Eier produziert er in seinem Leben, in dem er Strecken von mehr als 300 Kilometern zurücklegen kann.
Einen Tag später schlüpfen aus diesen Eiern Larven, die sich mit ihren "leckend-saugenden" Mundwerkzeugen unter der Haut tief in Gewebe und Muskeln ihres Opfers fressen. Ringe aus Stacheln, die sich quer um den Körper ziehen, dienen den Larven dazu, ihre Position im Gewebe zu halten.
Weil der Ektoparasit nur eine kleine Öffnung auf der Hautoberfläche zurücklässt, verrät nur der faulige Geruch der Wunde seine Anwesenheit. Andauernder Befall hinterlässt später große, unregelmäßige und sackförmige Löcher im Körper des Opfers. Am Ende warten auf den Wirt, in diesem Fall eine Kuh, unvorstellbare Schmerzen und schließlich der Tod.
Was sich wie der Auftakt eines Thrillers von Michael Crichton liest oder wie die Eröffnungsszene einer weiteren "Alien"-Episode, ist in weiten Teilen des amerikanischen Kontinents grausame Realität. Die irdische Natur erschafft Lebensformen, die weit bizarrer sind als die Einfälle eines Schriftstellers. Und weil die guten unter ihnen das auch wissen, nehmen sie gerne Anleihen bei der Wirklichkeit. Bestseller-Autor Frank Schätzing ("Der Schwarm") ist dafür bekannt, seine Science-Fiction-Epen so dicht mit Fakten zu unterfüttern, dass sie, wenn auch nicht möglich, so doch zumindest denkbar sind. Für sein aktuelles Werk "Die Tyrannei des Schmetterlings" hat er sich unter anderem Unterstützung bei einem Gießener Insektenbiotechnologen geholt, dem er im Anhang seines aktuellen Thrillers mit den Worten dankt: "Prof. Dr. Marc F. Schetelig, Universität Gießen, ist Experte fürs große Krabbeln, explizit für Insektenbiotechnologie. Wir hatten viel Spaß dabei, die fiesen kleinen Monster, die durchs Buch schwirren, zum Leben zu erwecken - rein gedanklich." Schätzing hatte sich vor einem Jahr direkt an Schetelig gewendet, was den 38-Jährigen im Nachhinein aber auch nicht verwundert. "Frank Schätzing hat sich sehr gut auf unser Gespräch vorbereitet und er weiß, dass die Insektentechnik in Gießen in ganz Europa einzigartig ist."
Insektenbiotechnologie ist eine Mischung aus verschiedenen Disziplinen. "Insekten bieten die größte Vielfalt des Tierreichs und damit noch ungeahnte Möglichkeiten, neue Substanzen für die Medizin, die Lebensmittelindustrie oder den umweltfreundlichen Pflanzenschutz zu entdecken", beschreibt Schetelig seinen eigenen Forschungsbereich. Die Vielfalt in der Biodiversität sei ja schon da, man müsse sie nur nutzbar machen. "Da ist eine Fliege mit einem Superimmunsystem, da ist ein Molekül, das bisher noch nicht bekannt war, weil die Pharmaindustrie bislang nur nach Schema F gesucht hat", zählt der Forscher auf.
Hat man einen passenden Organismus gefunden, gezüchtet oder gentechnisch erstellt, folgt als nächster Schritt die Massenproduktion. Um etwa die Population einer Schädlingsart duch das Ausbringen unfruchtbar gemachter Männchen oder Weibchen zurückzudrängen, braucht man pro Woche Tonnen von sterilisierten Tieren. Für die Mittelmeerfruchtfliege gibt es beispielsweise Massenzuchtanlagen, die pro Woche 20 Tonnen Biomasse herstellen. Das entspricht etwa vier Milliarden Fliegen.
Das Paradebeispiel für die Sterile-Insekten-Technik (SIT) ist die erfolgreiche Verdrängung der Schraubenwurmfliege, deren verheerendes Wirken am Anfang dieses Artikels geschildert wurde. In Nordamerika wurde diese durch SIT komplett ausgerottet. Heute kommt sie nur noch in Südamerika vor. Zunächst habe man bloß die Grenze zu Mexiko halten wollen, sagt Schetelig, aber weil die - Obacht, Mr. Trump - viel zu lang sei, um sie engmaschig zu kontrollieren, habe man die Fliege schließlich aus ganz Nordamerika verdrängt. Derzeit werde eine Linie quer durch das schmale Panama gehalten.
Welches mörderische Insekt tyrannisiert die Leser aber nun im neuen "Schätzing"? Da kann Schetelig nicht spoilern, selbst wenn er es wollte. "Ich habe leider noch keine Zeit gehabt, es zu lesen." Aber er kennt natürlich den "Schwarm", womit dem Kölner Bestsellerautor der Durchbruch gelungen ist.
"Im ,Schwarm' gibt es viele Fakten und nur wenig Fiktion. Genauso ist auch der ,Schmetterling'", meint der Forscher über den Autoren: "Schätzing ist ja kein Wissenschaftler. Er war Werber, ist Musiker mit eigenem Tonstudio, aber er ist wahnsinnig in den Themen drin, hat sich eingelesen und geht dann zu Spezialisten, um in die Tiefe zu gehen und seinen Plot abzusichern. Er recherchiert extrem gut, und holt sich bei uns Experten dann die Rückversicherung, was jetzt schon möglich ist, was denkbar ist und was pure Science Fiction. Er ist da ganz fokussiert und auf dem Stand der Forschung. Er schaut, was ist möglich und von dort bricht er dann im Roman in neues Terrain auf."
Schon heute ist manches, was den Laien erstaunt, für Forscher bereits Alltag. "Die SIT gibt es seit 60 Jahren, aber wer kennt die schon?", sagt Schetelig. Zudem gibt es Kollegen, die sich mit künstlicher Intelligenz, mit Roboterschwärmen oder eben mit modifizierten Insekten beschäftigen. Und dann werden diese Forschungsbereiche auch noch miteinander kombiniert. Was können Insekten lernen, wenn man sie mit intelligenten Systemen kombiniert? Werden einmal Cyborg-Insekten mit implantierten Mikrochips über Feldern und Wiesen schweben oder miniaturisierte Roboter mit den Eigenschaften eines Insekts? Über solche Fragen hat sich Schetelig lange mit dem Bestsellerautor unterhalten und aktuelle Forschungsansätze weitergesponnen. "Wir haben über Gott und die Welt in der Biologie geredet. Wie das Leben in verschiedenen Organismen anfängt und wie sich das weiterentwickeln kann", erinnert er sich. Stundenlang sei das so gegangen. "Er kam mittags und wir haben bis zum Abend zusammengesessen. Danach haben wir noch in Gießen im Dachcafé zu Abend gegessen."
Auch über die Frage der Fragen haben die beiden philosophiert: "Wir reden ja schnell von künstlicher Intelligenz", sagt Schetelig, "aber von wirklicher Intelligenz können wir erst dann reden, wenn die Maschine sagt: 'Ich bin ich.' Wenn sie sich nicht mehr an ihren einprogrammierten Code hält - und dann wird es gefährlich."
In der Robotik sehe man ja bereits Ansätze zum Machine-Learning, also Maschinen, die sich selbst und autonom weiterentwickeln, meint der Insektenforscher. Ob freilich in zehn Jahren oder zehntausend Jahren ein künstliches Bewusstsein erwacht, da wagt Schetelig keine Prognose. "In zehn Jahren? Da sage ich: Nein. Andererseits: Wer hat vor 40 Jahren geahnt, zu was heute unsere Handys fähig sind?"
Schetelig sieht in einer künstlichen Intelligenz auch eine Gefahr für die Menschheit. Was müsste die neue Intelligenz können, um ihre Schöpfer auszulöschen? "Nicht viel", meint der Forscher nüchtern: "Die müssten uns eigentlich nur die Elektrizität wegnehmen und das war's. Keiner von uns weiß doch noch, wie man sich selbst versorgt. Die Kühlkette würde nach zwei Tagen ohne Strom komplett abreißen. Die Leute werden erst wie die Lemminge umherlaufen, dann durchdrehen und plündern. Da wird in Windeseile die öffentliche Ordnung kollabieren." Schetelig schließt: "Es ist eigentlich gar nicht so schwer, uns auszulöschen, da braucht es keine Atombombe." Weniger Furcht hat er vor einer Schwarmintelligenz, die als Kollektiv die menschliche Individualität bedroht. "Solch ein Zusammenschluss ist möglich, aber wahrscheinlich würde sich schon bald ein Teil des Kollektivs absondern, weil es sich für schlauer hält als die anderen. Da würde es zur Fraktionenbildung kommen, genau wie bei uns Menschen."
Das klingt jetzt fast schon ein wenig wie Exposés für einen neuen Schätzing oder Eschbach. Aber selbst einen Roman schreiben, das kann sich Schetelig überhaupt nicht vorstellen. "Ich kann doch nicht fragen: Was könnte sein, wenn ich als Wissenschaftler doch weiß, dass es nicht so ist. "
Verteilungsfrage
Ob Frank Schätzing am Ende auf Marc Schetelig gehört hat, konnte der wie gesagt noch nicht überprüfen. Für den 700-Seiten-Wälzer bräuchte er eigentlich Urlaub. Den hat der Experte im Moment aber nur auf dem Papier. Was aber auch gar nicht so schlimm für ihn ist, denn da ist ja noch die Forschung. "Da ist die Wirklichkeit, und in der können wir noch viel verbessern", meint Schetelig und wird noch einmal global: "Unendliches Wachstum kann es auf unserem Planeten nicht geben, und das wird es auch nicht geben. Die Prognosen für den Höchststand der Weltbevölkerung liegen bei neun bis zehn Milliarden, was schon Grund genug zur Sorge wäre, danach sollen die Zahlen aber wieder sinken." Nach Scheteligs Auffassung wäre aber auch eine derart große Weltbevölkerung kein Problem: "Essen haben wir genug auf diesem Planeten. Wir haben derzeit doppelt so viele Lebensmittel auf dem Planeten, wie wir benötigen. Wir schaffen es aber seit Jahrzehnten nicht, diese Nahrungsmittel zu verteilen, und ich denke auch nicht, dass wir das jemals schaffen werden." Das scheitere letztlich in des Wortes doppelter Bedeutung an der Verteilungsfrage. Im Grunde müssten wir alle weniger konsumieren, aber das widerspreche unserem Wirtschaftssystem, das immer weiter wachsen wolle.
Und Frank Schätzing? "Ich denke, der ist ganz froh, dass dieses Buch jetzt erst mal draußen ist", meint Schetelig, der dessen Disziplin bewundert. "Er hat seinen mir damals skizzierten Zeitplan genau eingehalten," und fügt dann noch hinzu: "Wenn ich könnte, würde ich Schätzing gerne meine ganzen wissenschaftlichen Daten geben. Dann könnte er mir auch meine Arbeiten schreiben, aber ich fürchte, ich kann ihn mir nicht leisten."