Gießener Kellerclub Ulenspiegel digital nachgebaut
Wann Gäste den Ulenspiegel in Gießen wieder "live" betreten dürfen, ist noch ungewiss. Beim virtuellen "Homecoming" können nun Avatare wie in einem Computerspiel miteinander feiern, an der Bar stehen oder auf Toilette gehen.
Von Jasmin Mosel
Ein Bild vor Pandemie-Zeiten: Wann Gäste den Ulenspiegel wieder "live" betreten dürfen, ist noch ungewiss. Beim virtuellen "Homecoming" können nun Avatare miteinander tanzen, an der Bar stehen oder auf Toilette gehen. Archivfoto: Friese/Screenshots: silvesterzuhause.de/Mosel
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GIESSEN - Weihnachten 2020 bricht mit Traditionen - auch schon einen Tag vor Heiligabend. Für Gießen-Exilanten, die über die Feiertage wieder den Weg in die Heimat finden, gehört am 23. Dezember das "Homecoming"-Event im Ulenspiegel seit Jahrzehnten zum Pflichtprogramm. Diesmal wird daraus aus bekannten Gründen nichts. Oder besser: fast nichts. Abseits des gewohnten Programms wird es eine Corona-kompatible Alternative geben, "nur halt ohne den klebrigen Boden und die langen Schlangen am Eingang", wie der Veranstalter verspricht. Organisiert wird das rein virtuelle Zusammentreffen aber nicht von den Pächtern Britte und Tobias Bach, sondern von dem Gießener Gründer Christoph Seipp, der sich vor rund drei Wochen die Internet-Domain www.silvesterzuhause.de gesichert hat. Seine Vision: An Silvester soll trotz Lockdown und Ausgangssperre wieder gefeiert werden. Mit dem "Homecoming" im Ulenspiegel will der 36-Jährige schon vor dem Jahreswechsel zeigen, wie sein Konzept funktioniert.
Retro-Optik
Alles ist vorbereitet: An der Theke laden Barhocker zum Verweilen ein, nebenan liegen Karten- und Brettspiele auf kleinen Tischen, und vor der Bühne werfen die Lichter schon bunte Kreise auf den Boden. Fehlen nur noch die Gäste. Per Avatar können die sich am 23. Dezember ab 20 Uhr durch die bekannten - und doch irgendwie anders aussehenden - Räume bewegen. Mit der Kommunikationsplattform "Gather" als Vorlage hat Seipp den Ulenspiegel virtuell nachgebaut. Der Club und Kulturkeller kommt nun im Stil eines 90er-Jahre-Computerspiels daher, Gäste können ihre gestaltbaren Pixel-Menschlein einfach per Pfeiltasten durch die Location steuern. Doch, die Optik ist alles, was hier retro ist. Um andere Gäste zu treffen, steht moderne Kommunikationstechnik zur Verfügung. Sobald sich zwei Avatare nähern, öffnet sich ein Videochat; je nach Einstellungen klappt das nicht nur mit einem, sondern etlichen Mitmenschen im virtuellen Kreis. In verschiedenen Bereichen warten unter anderem Livestreams der Ulenspiegel-DJs, Minispiele und eine "Open Stage", etwa für Musiker oder Poetry-Slammer. Neben Kamera und Mikrofon rät der Veranstalter, mit Getränken und Snacks vor dem Computer zu sitzen - für die Party-Atmosphäre.
Christoph Seipp dürfte vielen Gießenern kein Unbekannter sein, für "myKolter" erhielt er 2016 den Hessischen Gründerpreis. Über seine neueste Plattform "silvesterzuhause.de" soll das Feiern im Pandemie-Jahr nun doch noch möglich gemacht werden. "Es geht mir nicht gut bei dem Gedanken, dass das ersatzlos gestrichen wird", sagt Seipp im Gespräch mit dieser Zeitung. Mit seiner Idee renne er inzwischen "offene Türen ein". Unter anderem durch die Unterstützung von Radio Frankfurt hofft er, dass "silvesterzuhause" zu einem "europaweiten Event" wird. "Es geht so viel, wenn man Alternativen schafft", ist der 36-Jährige überzeugt. Bevor zum Jahreswechsel die ganz große Party mit vielen Tausend Teilnehmern starten soll, will er sein Konzept in Gießen vorstellen. Die Wahl auf den Ulenspiegel sei schnell gefallen. "Da gehe ich immer noch sehr gerne hin", verrät der Veranstalter.
Ein Bild vor Pandemie-Zeiten: Wann Gäste den Ulenspiegel wieder "live" betreten dürfen, ist noch ungewiss. Beim virtuellen "Homecoming" können nun Avatare miteinander tanzen, an der Bar stehen oder auf Toilette gehen. Archivfoto: Friese/Screenshots: silvesterzuhause.de/Mosel
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Die Pächter Britte und Tobias Bach haben den digitalen Nachbau "ihres" Kellers vor wenigen Tagen begutachtet und gemeinsam mit einigen aktuellen und früheren Mitarbeitern getestet. Tobias Bach gefällt vor allem die Mischung zwischen 90er-Jahre-Game-Design und Videotelefonie. "Das ist schon sehr cool, hier treffen zwei Welten aufeinander." Und auch die eingebauten "Gimmicks" sind aufgefallen, wenn sie auch nur sehr verpixelt zum Vorschein kommen. Christoph Seipp hat die Räume vorab fotografiert und in der digitalen Version etwa Wandbilder an den "echten" Stellen platziert. Auch die Scheinwerfer-Lichter hat er versucht, originalgetreu nachzubilden. Als kleiner Gag wurde außerdem die Damen- Toilette als Separee angelegt. "Hier können sich zwei Frauen ungestört unterhalten", erklärt Seipp.
Auch Britte und Tobias Bach werden sich am 23. Dezember im Ulenspiegel einloggen. "Es interessiert uns natürlich, wie der Abend ankommt und was ein fremder Veranstalter damit macht", sagt Britte Bach. In erster Linie sei es aber traurig, dass das "Homecoming" nicht wie gewohnt stattfinden kann. Dazu ist die Traditionsveranstaltung mit mehr als 1000 Gästen eigentlich "der umsatzstärkste Tag des Jahres", wie Tobias Bach verdeutlicht. Sicher sei das virtuelle Event ein "Trostpflaster" und eine "schöne Sache", aber dennoch kein wirklicher Ersatz für das Original. "Wir vermissen unsere Gäste und Mitarbeiter einfach sehr", ergänzt Britte Bach. "Und wir hoffen, dass wir vielleicht im Frühjahr wieder zusammen sein dürfen." Erst Anfang Oktober war nach einer Konzeptumstellung der frühere "Kleine Lenz" als Kneipe "Ulenspiegel 53" wiedereröffnet worden. "Wir sind immer noch glücklich damit" - trotz des Lockdowns und der damit verbundenen Schließung, betont Britte Bach. Die Pächter bezahlen ihre Mitarbeiter weiter, auch, um "gemeinsam nach vorne zu schauen".
Der Eintritt für das digitale "Homecoming" beträgt 8 Euro. Laut Christoph Seipp ist dieser Preis kostendeckend kalkuliert, etwa für notwendige Lizenzen. Über den "virtuellen Hut" kann im Online-Shop von www.silvesterzuhause.de allerdings für Kunst- und Kulturschaffende gespendet werden. "Das liegt mir sehr am Herzen", sagt Seipp. "In der Branche ist es schließlich seit neun Monaten still."