Im eigenen Wohnzimmer attackiert: Brutaler Überfall in Gießen mitten in der Nacht
Der Horror begann mitten in der Nacht: Bei einem brutalen Einbruch in ein Mehrfamilienhaus in der Bahnhofstraße werden Mutter und Tochter verletzt. Nun muss sich ein 29-Jähriger dafür vor dem Landgericht verantworten.
Von Heidrun Helwig
Von Einbrecher aus dem Schlaf gerissen: Das Landgericht befasst sich mit einem Horrorszenario. Foto: Grain-Art.com/Schwarz
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GIESSEN - Der Horror begann mitten in der Nacht. Nachdem das Mädchen durch Lärm im Wohnzimmer aus dem Schlaf gerissen worden war. Um zu reagieren, aber blieb keine Zeit. Denn sogleich warf sich der Einbrecher auf die 17-Jährige, entriss ihr Armband und Kette. Zudem forderte er unmissverständlich Geld. Mehr als 2,50 Euro hatte die Jugendliche jedoch nicht in ihrem Zimmer. Deshalb zerrte der Mann sie an den Haaren aus dem Bett, presste den Ellbogen von hinten um den Hals und schleifte sie durch die Hochparterre-Wohnung in der Bahnhofstraße. In der Küche griff der Täter obendrein nach einem scharfen Messer. Als nun die von dem Radau alarmierte Mutter herbeieilte, schlug und stach der Angreifer "mehrfach mit großen Ausholbewegungen" in Richtung Hals, Nacken und Bauch der Frau ein. Den erbeuteten Laptop und das Tablet wollte er nämlich nicht mehr hergeben. Als Folge erlitt die 37-Jährige diverse Stich- und Schnittverletzungen. Anschließend flüchtete der gewalttätige Eindringling durch das offenstehende Wohnzimmerfenster. Die 17-Jährige verfolgte ihn und sprang ebenfalls nach draußen. Dabei brach sie sich allerdings das Fersenbein, und ihr Peiniger konnte unerkannt entkommen.
Für diesen brutalen Übergriff in der Nacht zum 29. Juli 2018 muss sich nun ein 29-Jähriger vor dem Landgericht verantworten. Zu Prozessauftakt aber steht vor allem die Frage nach seiner wahren Identität und seinem tatsächlichen Alter im Mittelpunkt.
Auf der Straße gelebt?
Gleich zwei Alias-Namen liest Oberstaatsanwältin Yvonne Vockert bereits mit der Anklageschrift vor. Und ein knappes Dutzend weiterer - teils sehr ähnlich klingender - Pseudonyme sind in einem Dokument aus Spanien aufgelistet, das der Vorsitzende Richter Jost Holtzmann wenig später vorstellt. Dort hatte der junge Mann rund zehn Jahre lang gelebt.
Bei seinem Geburtsdatum hat der marokkanische Staatsbürger offenkundig selbst Schwierigkeiten. Erst nennt er 1999, dann schaut er auf die Akten und korrigiert sich auf 1990. Tag und Monat kann er ebenfalls erst nach mehrfachen Nachfragen angeben. Überhaupt vermag sich der Angeklagte an nur sehr wenige Eckpunkte seines Lebens zu erinnern. Schnell wird überdies deutlich, dass seine Existenz geprägt ist von Planlosigkeit und Scheitern. Zu den massiven Vorwürfen möchte sich der 29-Jährige indes gar nicht äußern.
Auf den ersten Blick wirkt der dunkelhaarige mittelgroße Mann keinesfalls unsympathisch. Leger gekleidet mit knielanger Jeans und langärmeligem grauem Pulli sitzt er leicht geduckt und kleinmütig zwischen dem Dolmetscher und seinem Verteidiger Thorsten Marowsky. Als sich die Fragen dann aber zunehmend auf seine mögliche Alkoholabhängigkeit sowie die "bei Stress" selbst beigebrachten "Ritze" am linken Arm konzentrieren, verwehrt er etwas bockig weitere Details. Zumindest stimmt er zu, sich von einem psychiatrischen Sachverständigen begutachten zu lassen.
Gemeinsam mit fünf Geschwistern ist der junge Mann wohl in Marokko bei den Eltern aufgewachsen. Mit ungefähr zehn Jahren habe er angefangen, auf der Straße zu leben. "Meine Familie war zu schwach, sie hatte keine Zukunft", begründet er diese Flucht. Um zu überleben, "habe ich alles Mögliche gemacht". Im Jahr 2003 habe er sich schließlich nach Europa aufgemacht.
"Meine eigene Zukunft"?
"Ich wollte etwas für meine eigene Zukunft tun", versichert er. Allerdings hat er weder lesen noch schreiben gelernt und sich allenfalls mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Erst in Italien, später dann in Spanien, wo es augenscheinlich immer wieder Probleme mit den Ausländerbehörden gab und er auch kleinere Straftaten begangen hat.
2018 sei er dann nach Deutschland gekommen, über Dortmund nach Gießen. Sein Alltag scheint recht eintönig gewesen zu sein, geprägt von Alkohol und dem Bemühen, "gefundene Sachen" zu verticken. Ende Januar wurde der 29-Jährige allerdings in Holland festgenommen und von dort nach Deutschland in Untersuchungshaft ausgeliefert. Seit zwei Wochen ist er nun wieder auf freiem Fuß, lernt Deutsch in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung und trinkt nach eigenen Angaben nicht mehr. "Manchmal bin ich aber nicht normal im Kopf", schildert der Angeklagte. Was er damit genau meint, kann er nicht in Worte fassen. Fest steht, dass er zur "Ausreise" aus Deutschland verpflichtet ist, derzeit aber noch eine Duldung hat. Zunächst soll das Verbrechen in dem Mehrfamilienhaus im Juli vergangenen Jahres aufgeklärt werden. Dazu werden am 19. August vor der Zweiten Strafkammer auch die Jugendliche und ihre Mutter als Zeuginnen zu den dramatischen Ereignissen in jener warmen Sommernacht befragt.