"Jahrhundertzeuge Ben Ferencz" auch an JLU Gießen zu Gast
Benjamin Ferencz war Chefankläger im Nürnberger "Einsatzgruppen-Prozess". Zum seinem 100. Geburtstag ist eine Biographie über den "Jahrhundertzeuge" erschienen, der 2013 an der JLU zu Gast war.
Von Heidrun Helwig
Benjamin Ferencz war gerade mal 27 Jahre alt, als er als Chefankläger hochrangige SS-Offiziere wegen Mordes an Hunderttausenden Menschen vor Gericht brachte. Foto: Benjamin Ferencz/Piper Verlag /dpa
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GIESSEN. Überall lagen Leichen. Vor dem Krematorium. Zwischen den Baracken. Auf dem Appellplatz. "Es war unbeschreibbar und unvorstellbar", sagte Benjamin Ferencz bei seinem Besuch in Gießen. Und diese Bilder hat der alte Herr auch nie mehr vergessen können. Sie haben sich "in mein geistiges Auge eingebrannt" und "mich ermutigt, den Rest meines Lebens darauf zu verwenden, einen weiteren Holocaust zu verhindern". Bereits als junger Soldat der US-amerikanischen Armee hat der Jurist damit sein Lebensthema gefunden. Im Konzentrationslager Buchenwald, in Mauthausen, in Flossenbürg war es seine Aufgabe, unmittelbar nach der Befreiung Beweise für den Massenmord der Nationalsozialisten zu suchen. Als Chefankläger im Nürnberger "Einsatzgruppen-Prozess" hat er im wohl größten "Mordprozess der Geschichte" die Verurteilung aller Angeklagten erreicht.
Auch danach blieb er in Deutschland, hat sich für die Entschädigung der Opfer der NS-Diktatur eingesetzt und sich in den Reparationsverhandlungen zwischen Deutschland und Israel engagiert. Und als Völkerrechtler hat er jahrelang für die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) gekämpft, der Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ahndet. "Krieg ist schmutzig und grausam. Krieg darf nicht glorifiziert werden", betonte er im Jahr 2013 vor Studierenden des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität (JLU). Nun hat der Journalist und Historiker Philipp Gut aus Anlass des 100. Geburtstages des "leidenschaftlichen Kämpfers für Gerechtigkeit" ein packendes Porträt mit dem Titel "Jahrhundertzeuge Ben Ferencz" vorgelegt. Darin werden die großartige Lebensleistung dieses charismatischen Mannes gewürdigt sowie gleichzeitig sein unbeugsamer Charakter und unfassbarer Optimismus überschwänglich gefeiert. "Wenn er nicht gerade einen Notfall auskuriert, macht er noch jeden Morgen seine Übungen: sagenhafte 115 Liegestütze, eine halbe Meile rennen und schwimmen. Schier noch beeindruckender ist seine mentale Frische. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht arbeiten würde", schreibt Philipp Gut, der sich in seiner Biographie auf mehrere persönliche Gespräche, das Privatarchiv sowie etliche Aufzeichnungen des letzten noch lebenden Chefanklägers der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse stützt.
Stippvisite an der JLU
Benjamin Ferencz ist mit rund 1,50 Meter recht klein gewachsen und zudem beinahe zierlich. In seinen wachen Augen blitzt der Schalk immer wieder auf, sein scharfer Verstand ist ohnehin längst legendär. Auf Formalitäten legte der Professor sicher nicht nur bei seiner Stippvisite an der JLU keinen Wert. Denn bei der Vorstellung lässt er seine akademischen Titel ganz unerwähnt und beginnt zunächst die für einen Amerikaner gar nicht so einfachen Namen seiner deutschen Gesprächspartner fehlerfrei auszusprechen. Dabei lachte er immer wieder auch über sich selbst. Es war also kaum möglich, den charmanten alten Herrn nicht auf Anhieb zu mögen. Zweifelsohne weiß er um sein gewinnendes souveränes Auftreten. Schließlich stand er über viele Jahre regelmäßig in Kontakt mit etlichen Staatschefs, diskutierte mit Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon ebenso wie mit dessen Vorgänger Kofi Annan und hat gemeinsam mit Hollywoodstar Angelina Jolie den Prozess gegen den aus dem Kongo stammenden Rebellenführer Thomas Lubanga vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beobachtet. Dort eröffnete er im Januar 2009 symbolisch das erste Plädoyer der Anklage und stellte damit die Arbeit des Gerichts in die direkte Tradition der Nürnberger Prozesse. Und bevor Benjamin Ferencz für seinen beharrlichen Kampf um die Etablierung des ICC Anfang Dezember 2013 in Berlin mit der "Dag-Hammarskjöld-Ehrenmedaille" der "Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen" ausgezeichnet wurde, machte er Station an der JLU. Dort saß er ganz bescheiden im Büro des Gießener Völkerrechtlers Prof. Thilo Marauhn, naschte Schokolade und dachte im Gespräch mit dem Anzeiger an seinen ersten Aufenthalt in Gießen zurück.
Im Gießen der Nachkriegszeit
Damals unmittelbar nach Kriegsende als Sergeant der 3. US-Armee unter General George Smith Patton. "Wir waren in Frankfurt stationiert und natürlich sind wir auch durch Gießen gekommen." Daran konnte er sich noch erinnern. Nicht mehr konkret präsent war ihm indes die Zerstörung der Stadt. Immerhin hat "ganz Deutschland die Folgen des Krieges erlebt".
Benjamin Ferencz stammt aus einfachen Verhältnissen. 1920 im damaligen ungarischen Siebenbürgen geboren, siedelten seine jüdisch-orthodoxen Eltern ein Jahr später mit ihm und der älteren Schwester in die Vereinigten Staaten um. In New York wuchs der neugierige Junge in "Hell's Kitchen" auf, dem Viertel mit dem höchsten Kriminalitätsanteil. Zielstrebig und fleißig gelang es ihm, mit einem Stipendium an der "Harvard Law School" sein Jura-Studium abzuschließen. Danach meldete er sich zum Kriegseinsatz in Europa. "Die Alliierten hatten im Zuge ihrer Pläne für die Nachkriegszeit schon 1943 den Entschluss gefasst, deutsche Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen", schreibt Philipp Gut. Und Benjamin Ferencz hatte seinerzeit eine Assistentenstelle bei Prof. Sheldon Glueck, der sich bereits mit den rechtlichen Fragen der Anklage und Bestrafung von NS-Tätern auseinandersetzte.
Zunächst beschäftigte sich der junge Soldat in der juristischen Abteilung der Armee mit den Lynchmorden an alliierten Piloten. Diese Untersuchungen, die er auch nach Hessen anstellte, mündeten in den sogenannten Fliegerprozessen. Zudem "erstritt er sich die Erlaubnis, auf eigene Faust überall hin zu reisen, wo deutsche Kriegsgräuel ruchbar wurden", heißt es in der Biographie. Das führte Benjamin Ferencz als einen der Ersten in verschiedene Konzentrationslager. Nachdem er reichlich Beweismaterial für die Kriegsverbrechen der Deutschen gesichert hatte, machte er sich Ende 1945 auf den Heimweg nach Amerika. "Ich wollte damals nie mehr nach Deutschland zurückkehren." Dann aber kam das überaus reizvolle Angebot, die Ankläger im Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal zu unterstützen. "Das konnte ich nicht ablehnen", erzählte er. Also trat Benjamin Ferencz im Frühjahr 1946 doch wieder seinen Dienst in Berlin an. Seine Jugendliebe Gertrud, die er inzwischen geheiratet hatte, folgte ihm wenige Monate später.
Erschießungslisten
Der große Durchbruch gelang kurz vor Beginn des Jahres 1947. In den Trümmern des Auswärtigen Amtes waren zwölf Aktenordner mit dem scheinbar harmlosen Titel "Ereignismeldungen UdSSR" entdeckt worden. Schon beim ersten Durchblättern erkannte der Jurist, dass es sich um Erschießungslisten handelte. "Ich habe mir eine Rechenmaschine bringen lassen und die Zahlen addiert", erinnerte sich Benjamin Ferencz. "Bei einer Million angekommen, wusste ich, dass ich es mit kaltblütigen Massenmördern zu tun hatte." Ausgewertet hat der junge US-Ermittler die Meldungen der vier "Einsatzgruppen", die von Juni 1941 an Hitlers Armeen auf dem Feldzug nach Osten gefolgt waren und "marxistische Volksverräter und andere Staatsfeinde" liquidiert hatten. Im Klartext: jüdische Männer, Frauen und Kinder, sowjetische Funktionäre, aber auch Psychiatriepatienten, als "Zigeuner" stigmatisierte Menschen und Geiseln aus der Zivilbevölkerung. Dazu zählte auch der Mord an mehr als 33000 Juden in der Schlucht von Babij Jar am 29. und 30. September 1941.
Nach den Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher hatten die Amerikaner allerdings nicht vor, weitere Strafverfahren zu führen. Zumal nicht nur die Ressourcen knapp waren, sondern auch die Unterstützung der deutschen Bevölkerung zunehmend schwand. Doch Benjamin Ferencz wollte "diese Massenmörder nicht davonkommen lassen". Deshalb bot er an, das Verfahren selbst zu übernehmen. Damit wurde er der jüngste Staatsanwalt in Nürnberg, obendrein ohne jegliche Erfahrung mit solch einem Prozess. "Ich war 27 Jahre alt, und es war mein erster Gerichtsfall." Von September 1947 bis April 1948 wurden tatsächlich die Verbrechen der "Einsatzgruppen" untersucht, und Benjamin Ferencz prägte dabei den Begriff "Genozid" in der Rechtsgeschichte.
Begriff "Genozid" geprägt
Hauptangeklagter war Otto Ohlendorf, Kommandeur der "Einsatzgruppe D", der im Hauptkriegsverbrecherprozess noch als Zeuge der Anklage ausgesagt hatte. "Er hat keine Reue gezeigt", berichtete der Völkerrechtler - selbst kurz vor der Hinrichtung nicht. "Er hat sich mit Putativnotwehr verteidigt." Also mit dem Argument, durch die Erschießungen habe man sich lediglich vor dem tödlichen Angriff des Bolschewismus auf das Deutsche Reich geschützt. Ohlendorf war selbst Jurist, ebenso wie sieben weitere der insgesamt 22 Angeklagten. Unter ihnen befand sich zudem ein Universitätsprofessor, ein Opernsänger sowie ein Pfarrer.
Das Militärgericht verhängte 14 Todesurteile, von denen später zehn in Haftstrafen umgewandelt wurden. "Die Täter waren keine Monster, sondern ganz normale Menschen", betont Benjamin Ferencz. "Der Krieg macht aus sonst anständigen Menschen Massenmörder." Deshalb hat er sein Leben lang für Frieden und Gerechtigkeit gekämpft. "Ich bedaure, dass ich nicht mehr so lange auf der Erde herumlungern kann, um zu sehen, wie alles läuft", heißt es am Ende der Biographie. Und der 100-Jährige fügt hinzu: "Ich wünsche der Welt viel Glück."
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Philipp Gut: Jahrhundertzeuge Ben Ferencz. Chefankläger der Nürnberger Prozesse und leidenschaftlicher Kämpfer für Gerechtigkeit. München: Piper Verlag 2020, 352 Seiten, 24 Euro.