Oberlinweg: Pläne der Stadt Gießen stoßen auf Kritik
GIESSEN - "Wenn ich vorher gewusst hätte, dass das hier eine Wahlveranstaltung für die Hessenwahl ist, wäre ich daheim geblieben." Sprach`s, klemmte ihre Handtasche untern Arm und verließ hörbar schnaubend den Saal des Konrad-Adenauer-Hauses im Spenerweg. Gegenstand des Unmutes einer Anwohnerin des Oberlinwegs war, dass außer ihren in großer Anzahl erschienenen Mitanwohnern nur Parteivertreter zu der Veranstaltung gekommen waren. "Keiner von der Stadtverwaltung ist da, der die Maßnahme erläutert", hatte sie moniert.
Die Maßnahme, um die es am Donnerstagabend ging, ist das von der Stadt geplante Straßenbauvorhaben im Oberlinweg zwischen Zinsendorfweg und Trieb. Hier soll der Gehweg, der sich ausschließlich auf der nördlichen Seite der Straße befindet, grundhaft erneuert werden. An die gegenüberliegende Straßenseite grenzen die Gärten der Häuser des Bodelschwinghweges, deren Eigentümer auch von dem Vorhaben betroffen sind. Anwohner Wolfgang Habermehl hatte zum Treffen eingeladen.
Borde beschädigt
Im Schreiben der Stadt an die Anlieger vom 11. Juli heißt es, dass die Borde im gesamten Straßenabschnitt erheblich beschädigt seien, der Gehwegbelag altersbedingt verschlissen sei und Setzungen und Risse aufweise. Die Stadtwerke (SWG) planen Gas- und Wasserleitungsverlegung, die Mittelhessischen Wasserwerke (MWB) punktuelle Kanalsanierungen. Wegen erheblicher Gehwegschäden sei vom Tiefbauamt vorgesehen, "den verbleibenden Gehwegbereich, die Borde mit Rinne und die Straßenbeleuchtungsanlage grundhaft zu sanieren." Die Gehwegbreite solle auf 1,90 Meter reduziert werden, "damit in Zukunft die Parkflächen auf der Fahrbahn entstehen und nicht mehr auf dem Gehweg." Ohne eine grundhafte Sanierung solle der Oberbau der Fahrbahndecke in Asphaltbauweise erneuert werden. Als Baubeginn mit etwa dreimonatiger Dauer wird im Schreiben der September avisiert. Von den Kosten der Stadt in voraussichtlicher Höhe von 100 000 Euro - nicht berücksichtigt sind die Kosten von SWG und MWB - seien 75 000 auf die Anlieger umlegbar. Denn der Oberlinweg würde in dem besagten Abschnitt vorbehaltlich der Magistratszustimmung als Anliegerstraße klassifiziert, sodass die Anlieger 75 Prozent der Kosten zu tragen hätten. Diese würden flächenanteilig, so im schönsten Beamtendeutsch "auf die Grundstücke verteilt, von denen aus die Möglichkeit der Inanspruchnahme der ausgebauten öffentlichen Einrichtung besteht".
Es ging also an diesem Abend um Straßenbeiträge, und zwar im speziellen um die im westlichen Oberlinweg, als dann auch allgemein in Gießen, in anderen hessischen Kommunen sowie im Land Hessen generell. Dies ist ein Thema, das seit etlichen Monaten landauf, landab heftig diskutiert wird.
Politik gefordert
Viele Anwohner waren erschienen, um zu erfahren, wie sich die Straßenbeiträge mindern oder ganz verhindern ließen. Absenken auf ein Zweidrittel wäre allenfalls möglich, wenn die Straße nicht als Anlieger-, sondern als örtliche Durchgangsstraße deklariert werden würde. Dann wären nur 50 statt 75 Prozent der Kosten umlagefähig. Dafür sähen die Karten nicht allzu gut aus, obwohl der Oberlinweg nicht als Spielstraße deklariert ist wie die parallel darüberliegenden Straßen Bodelschwingh-, Wichern- und Fliednerweg. Also muss dann wohl doch die Politik ran.
Zugegen waren von den Gießener Regierungsparteien Vertreter der SPD, der CDU und von der Opposition die der Gießener Linken und der Freien Wähler. Alle nahmen für sich in Anspruch, die Straßenbeiträge abschaffen zu wollen. Dazu gab und gibt es unterschiedliche Initiativen auf Landes- und auf kommunaler Ebene. In Gießen wird wohl am 15. November im Stadtparlament über einen diesbezüglichen Antrag der Freien Wähler diskutiert werden, so Magistratsmitglied Johannes Zippel.
Auf Landesebene scheiterte die SPD kürzlich mit einem Antrag auf Abschaffung. Bis 2012 hatte gegolten, dass die Kommunen Straßenbeiträge erheben "können", danach erheben "müssen" und ab 24 Mai des Jahres wieder "können". Neu ist, dass der Beitrag auf 20 Jahre mit minimalem Zinssatz gestundet werden kann. Nun können also die Kommunen wieder selbst entscheiden, ob sie für Straßenbau und Sanierungsmaßnahmen Geld von ihren Einwohnern kassieren.
"Dann kann die Stadt das doch auch abschaffen", kam eine Stimme aus der Versammlung. SPD-Fraktionsvorsitzender Christoph Nübel sah dies nicht als so einfach an, da die Stadt noch unter dem Rettungsschirm stehe und die Kommunalaufsicht dies schwerlich durchgehen lassen würde. Andreas Schneider von der Bürgerinitiative "Straßenbeitragsfreies Hessen" merkte dazu an, dass Gießen in 2017 etwa eine Million Euro Straßenbeiträge umgelegt habe. Gemessen am Gesamtetat der Stadt von circa 300 Millionen Euro sei dies kein besonders hoher Posten. Wenn, so Nübel, das Land Hessen den Ausfall der Straßenbeiträge übernehmen würde, könnte die Stadt diese umgehend abschaffen. Laut Schneider wären dies hessenweit knapp 40 Millionen Euro im Jahr, "eine Lappalie."
"Mieter, die auch die Straße nutzen, zahlen nix." Dieser Anwohneraussage widersprach Mathias Riedl als Fraktionsvorsitzender der Gießener Linken und erntete damit Widerspruch. Gemeint hatte Riedl die mit der Sanierung verbundene Wertsteigerung von Anwesen und Wohnung und mögliche Mieterhöhung. Unmut herrschte bezüglich der geplanten baulichen Veränderungen: "Da kommt kein Müllwagen mehr durch." Nübel sagte zu, die Planung nochmals zu überprüfen.
"Was kann ich als betroffene Hausbesitzerin machen?", war eine der gestellten Fragen. Die Antwort lautete "nichts, denn das Schreiben der Stadt ist eine Ankündigung. Und nur gegen den Zahlungsbescheid nach Ende der Maßnahme ist ein Widerspruch möglich." Damit es erst gar nicht zu einem Bescheid komme, sei politisches Handeln gefordert, so Organisator Habermehl. Vorbereitet hatte er eine entsprechende Petition, die von den Versammelten einhellig unterstützt wurde.