Protest bei VW in Wolfsburg: Aktivisten aus Gießen wollen Debatte über Verkehrswende
Vor zweieinhalb Wochen waren zwei Gießener Aktivisten an einer Protestaktion in Wolfsburg beteiligt, bei der unter anderem ein Zug mit Neuwagen aus dem VW-Werk an den Gleisen festgekettet und blockiert wurde. Im Interview erzählen sie, was damit bezweckt werden sollte und was sie zudem für Gießen fordern.
Von Julian Spannagel
"Zurzeit ist es ein Privileg, mobil zu sein", sagen die Aktivisten und fordern Mobilität zum Nulltarif. Foto: Andreas Bartelmess
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GIESSEN - In einem Gießen, wie es sich Cuca Malessa und Ruben Gradl vorstellen, werden Straßen zu Parks und Parkhäuser zu Wohnhäusern. Vor zweieinhalb Wochen waren sie an einer Protestaktion in Wolfsburg beteiligt, bei der Aktivisten unter anderem einen Zug mit Neuwagen aus dem VW-Werk an den Gleisen festgekettet hatten und blockierten. Währenddessen hingen beide mit Seilen und Netzen im "Globus" eines Auslieferungszentrums und Freizeitparks der Volkswagen AG. Die vor Ort gestellten Forderungen nach einer Verkehrswende sind auch in Gießen mit zahlreichen Aktionen bereits laut geworden. Im Interview mit dem Anzeiger sprechen die beiden über die Proteste in der Autostadt und welche Ziele sie damit verfolgt haben.
Was genau wollten Sie bezwecken?
Malessa: Mir ging es darum, die Bequemlichkeit und die gängigen Abläufe zu stören. Dass die Auslieferung von Autos blockiert wurde, war dabei ein netter Nebeneffekt, aber nicht mein Ziel. Mir war wichtig, dass das Ganze mehr zu Widerstand und direkter Aktion motiviert und weniger als Bitte rüberkommt. Damit sind auch alle anderen Menschen gemeint, die in der Klimabewegung aktiv sind, und die Bewegung selbst, denn Kohleausstieg allein ist nicht genug. Geteilt haben wir, dass wir eine öffentliche Debatte über die Verkehrswende wollen. Das Hauptwerk von Volkswagen eignete sich hier gut als Schauplatz.
In der Berichterstattung kam häufig zur Sprache, dass man gar nicht weiß, von wem die Aktion ausgeht. Wer steckt also dahinter?
Malessa: Das waren Gruppen und Individuen, die in räumlichen und kommunikativen Zusammenhängen stehen. Wir hatten den Anspruch, uns dezentral und hierarchiefrei zu organisieren. Deshalb gibt es auch keine einheitliche Position. So sind zum Beispiel verschiedene Pressemitteilungen rausgegangen, und es gab auch keinen Pressesprecher. Wir wollen eine Vielfalt der Meinungen - und keine davon unterdrücken.
An wen richten sich die Forderungen?
Gradl: Meine Forderungen sind mehr ein Vorschlag, Menschen zum Nachdenken anzuregen, damit Druck auf das System ausgeübt werden kann. Wenn mehr Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und beginnen, aktiv und selbstbestimmt zu agieren, kann viel erreicht werden.
Was sagen Sie dann zum Beispiel Menschen, die in ländlichen Gebieten wohnen und auf ein Auto angewiesen sind, um einkaufen oder arbeiten zu gehen?
Gradl: Es geht nicht darum, Menschen ihre Mobilität wegzunehmen, sondern diese auf andere Verkehrsmittel wie Busse, Bahnen und Fahrräder zu verlagern. Momentan ist es ein Privileg, mobil zu sein. Ich fordere ein Recht auf Mobilität für alle zum Nulltarif im ÖPNV. Das kann gegenwärtig nicht gewährleistet werden, da die Verkehrspolitik nur den motorisierten Individualverkehr attraktiver macht. Wir brauchen nicht nur einen anderen Verkehr, sondern auch weniger Verkehr. Ein Recht auf Mobilität bedeutet auch ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und zudem ein Recht auf kurze Wege.
Wie stellen Sie sich das konkret in Gießen vor?
Malessa: Die Innenstadt soll autofrei werden. Ziel ist auch ein kostenloser Öffentlicher Personennahverkehr mit Regiotram, Seilbahn und Straßenbahn. Das Bahnnetz, das sternenförmig auf Gießen zuläuft, wäre gut für eine Regiotram geeignet, die die Lücken schließt und somit in der Region alle Orte schnell über Schienen zu erreichen sind. Im Vergleich zur bisherigen Anbindung durch Busse könnten mehr Menschen transportiert werden, und es wäre auch nicht mehr so viel versiegelte Fläche notwendig. Damit es für alle attraktiver wird, auf das Auto zu verzichten, muss auch das Umland angebunden und das Verkehrsnetz bedürfnisorientierter gestaltet werden. So bekommt man auch die Autos wieder raus, die durch zu wenige Haltestellen und die Stilllegung von Buslinien und Bahnstrecken in die Stadt geholt wurden. Für die Umsetzung dieser Ideen wurden bereits Pläne für Gießen und das Wiesecktal entworfen. Das alles möchten wir unter anderem durch Straßenfeste vorantreiben, die inspirierend für die Umnutzung öffentlichen Raums sein können.