Wider die Klischees vom "exotisch Fremden": Postkolonialer Rundgang durch Gießen
Ein postkolonialer Stadtrundgang durch Gießen zeigt an fünf Orten, "wie Geschichte mit Gegenwart verbunden ist", und richtet sich gegen Klischees vom "exotisch Fremden". Entstanden ist das Projekt in einem Soziologie-Seminar an der JLU.
Von Jasmin Mosel
Der im damaligen "Luxor"-Kino gezeigte Film "Africa Addio" führte 1966 zu Protesten der Afro-Asiatischen Studentenunion. Foto: Mosel
Jetzt teilen:
Jetzt teilen:
GIESSEN - Der Trailer zu "Africa Addio" garantiert Action und gute Unterhaltung. "Wenn Sie in diesem Jahr nur einen Film sehen, dann muss es dieser sein", tönt es prätentiös aus dem Off. Die blecherne Stimme verspricht den Zuschauern Einblicke in ein "Afrika, wie es wirklich ist". Dazu gibt es aneinandergeschnittene Szenen voller Grausamkeit: Ein schwarzer Mann prügelt aggressiv auf die Windschutzscheiben passierender Autos ein. Hunderte Leichen liegen gestapelt auf verdorrten Feldern und Straßen. Elefanten und Nilpferde werden brutal niedergemetzelt.
Demonstrationen gegen den Pseudo-Dokumentarfilm bleiben nicht aus. In Gießen finden von der Afro-Asiatischen Studentenunion organisierte Protestaktionen vor dem "Luxor"-Kino in der Walltorstraße statt, wo der Film ab dem 4. August 1966 drei Mal täglich über die Leinwand flimmert. Das ehemalige Lichtspielhaus - mit 850 Plätzen seinerzeit das größte der Stadt und heute Standort der "Stadtbäckerei" - war eine Station des von Studierenden der Justus-Liebig-Universität (JLU) konzipierten postkolonialen Stadtrundgangs. An fünf Orten, die mit der deutschen Kolonialzeit in Verbindung stehen, wollte man "aufzeigen, wie Geschichte mit Gegenwart verbunden ist" und "koloniale Dominanz infrage stellen", erklärt Mitinitiator Johann Erdmann zum Auftakt. Das bereits 2017 im Rahmen eines Soziologie-Seminars entstandene Projekt wurde mit Unterstützung des Allgemeinen Studierenden Ausschusses (Asta) sowie des "Weltladens" überarbeitet und erweitert.
"Africa Addio" ist für die Gruppe ein Repräsentant für das Bild des Kolonialismus in der Popkultur. Schwarze Menschen werden zu "kulturlosen Wilden" degradiert, der afrikanische Kontinent undifferenziert dargestellt. In der Zeit seiner Veröffentlichung ruft der Film in der lokalen Berichterstattung kaum kritische Reaktionen hervor - im Gegenteil. Mit Bewertungen wie "Atemberaubende Jagd auf Mensch und Tier" oder "Safari auf 'Modern Art'" fällen die Gießener Tageszeitungen ein äußerst positives Urteil. Noch immer sind schwarze Akteure in der Filmbranche unterrepräsentiert. Oliver Fourier von der Gießener Regionalgruppe "Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze Menschen in Deutschland" (ISD) nennt Zahlen: Nur 5,5 Prozent der Regisseure und 13 Prozent der Schauspieler sind schwarz. Obendrein bediene diese Minderheit noch Rollenklischees und spiele häufig "Menschen in prekären Situationen, Flüchtlinge oder Kriminelle". Ein "weißer Retter" müsse sie dann aus einer Notsituation befreien - "eine subtile Art von Rassismus", so Fourier.
Weniger versteckt zeigten sich weiße Europäer auf Reklamesammelbildern Ende des 19. Jahrhunderts als "Spitze der Zivilisation", wie Marcel Rossol vor dem Unihauptgebäude verdeutlichte. Der Ort wurde wegen des Namensgebers der Hochschule gewählt, denn Chemiker Justus Liebig war auch Erfinder eines Fleischextraktes. Das noch heute erhältliche Produkt wurde ab 1862 in Uruguay und Namibia produziert. Beim Verkauf in Deutschland wurden dem Fleischpulver thematisch aufeinander abgestimmte Sammelbilder beigelegt, die vordergründig "die exotische Fremde" vermitteln sollten. Das Bild von den schwarzen Fabrikarbeitern war schon rein physisch verzerrt: großer Kopf, kleiner Körper, wulstige Lippen, gebückte Haltung.
Nun könnte man meinen, dass derartige optische Zuschreibungen in der heutigen Werbewelt keinen Platz mehr haben. Für 900 Dollar war jedoch in der letzten Winterkollektion von Gucci ein schwarzer Rollkragen-Pullover erhältlich, der bis zur Nase reicht und einen dicken lippenförmigen Ausschnitt um den Mund hat. Der Marke wurde vorgeworfen, das Kleidungsstück erinnere an "Blackface" - eine Theatermaskerade für die karikaturartige Darstellung schwarzer Menschen.
Ebenfalls nach hinten ging eine Reklame der schwedischen Modekette H&M los. Im Onlineshop trug ein schwarzer Junge einen Pullover mit der Aufschrift "Coolest monkey in the jungle" ("Der coolste Affe im Dschungel"). "Man kann hier eigentlich nur Absicht für eine größere Medienaufmerksamkeit unterstellen", folgert Jannik Reichel. "Oder es fehlt einfach an Sensibilität."
"Gruselige Attraktion"
Am Mildred-Harnack-Fish-Haus, das noch bis 2016 nach dem NS-Sympathisanten Otto Eger benannt war, ging es wiederum um den niedrigen Stellenwert von Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur. Im "Weltladen" gab es einen Exkurs zum fairen Handel. Eine aktuelle Debatte konnten die Studierenden von "Gießen postkolonial" im Oberhessischen Museum anstoßen. Im Wallenfels'schen Haus wurden bis 2017 menschliche Überreste aus den ehemaligen Kolonialgebieten ausgestellt - darunter eine Mumie, ein Schädel mit Haaren und ein Schrumpfkopf. Der Erwerbungskontext dieser Exponate konnte bislang nicht aufgearbeitet werden. Johann Erdmann erläuterte, dass "koloniales Raubgut" vordergründig meist aufgrund eines Bildungsauftrages nach Europa gelangt sei, tatsächlich aber für eine "gruselige Attraktion" und die Aufwertung der eigenen Kultur habe sorgen sollen. Der Student steht in Kontakt mit Museumsleiterin Katharina Weick-Joch, die im Rahmen einer für Herbst geplanten Ausstellung zur Geschichte der ethnologischen Sammlung Gesprächskreise in Aussicht gestellt habe. Die Studierenden hoffen, dass hier ein weißer Fleck in der Gießener Kolonialismus-Geschichte vollständig aufgearbeitet werden kann.