Unser absurder Alltag: Essayist Götz Eisenberg widmet sich diesmal dem von der Stadt Gießen begonnenen Projekt "Fahrradstraßen".
Die Goethestraße wird Fahrradstraße. Doch schon im nahen Anlagenring gilt auch weiterhin das Recht des Stärkeren. Foto: Mosel
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GIESSEN - Gießen darf sich demnächst rühmen, zu jenen deutschen Städten zu gehören, die "Fahrradstraßen" eingerichtet haben. Bürgermeister Peter Neidel informierte am 11. November auf einer öffentlichen Veranstaltung über das Vorhaben. Es hatte sich ein erstaunlich großes Publikum eingefunden, das zunächst den Ausführungen des Bürgermeisters und seiner Mitarbeiter aus der Verwaltung lauschte. Es geht kurz gesagt darum, die Goethe-, die Lony- und die Löberstraße als Fahrradstraßen auszuweisen, was zunächst einmal bedeutet, dass dort der Radverkehr Vorrang vor anderen Formen des Verkehrs besitzt und dass die sonst überall dominierenden Automobile sich dem Tempo und den Bedürfnissen der Radfahrer anzupassen haben. Um die Ausweisung der Fahrradstraßen rechtlich abzusichern, müssen zahlreiche Verkehrsschilder aufgestellt werden. Dazu kommen noch großflächige Piktogramme, die auf die Fahrbahn aufgetragen werden sollen, und Poller, die die Goethestraße am Hauptgebäude zu einer Sackgasse machen. Außerdem werden in der Goethestraße einige der ohnehin raren und hart umkämpften Parkplätze wegfallen.
Gegen das Vorhaben erhob niemand im Saal grundsätzliche Einwände. Dennoch herrschte in der anschließenden Diskussion eine Stimmung, die sich am besten mit den Worten umschreiben lässt: "Alles schön und gut, aber ..." Der Ton war, und das kann man in diesen Zeiten gar nicht genug betonen, durchgehend freundlich und respektvoll. Es wurde gefragt, warum man sich gerade für diese Straßen entschieden habe? Zumindest Lony- und Löberstraße seien de facto längst Fahrradstraßen, und auch in der Goethestraße hätten Auto- und Radfahrer im Laufe der Jahre zu einem halbwegs zivilisierten Umgang miteinander gefunden.
Was denn die Umwandlung dieser Straßen in Fahrradstraßen koste, wurde gefragt, und ob man dieses Geld nicht sinnvoller einsetzen könne? Es gebe andere Punkte in der Stadt, die vordringlicher seien, zum Beispiel der Übergang vom Schiffenbergertal in die Goethestraße. Der sei wirklich abenteuerlich und mit mancherlei Gefahren verbunden. Man habe die neuralgischen Punkte ausgespart und sei vor notwendigen radikalen Eingriffen zurückgeschreckt. Jeder in der Stadt spüre, dass der motorisierte Individualverkehr kurz vor dem Kollaps stehe und ein Infarkt drohe. Im Publikum war von "Pillepalle" und "Alibi-Politik" die Rede.
Der Bürgermeister selbst betonte immer wieder den auch symbolischen Wert der Maßnahme. Man wolle ein Zeichen setzen, dass man den Radverkehr fördern wolle. Der Ausbau eines ganzen Netzes von Fahrradstraßen sei geplant. Die Fragen nach dem Zeitplan für diese weiteren Schritte blieben genauso unbeantwortet wie die nach der Anzahl der Schilder und den anfallenden Kosten. So etwas koste nun einmal etwas, sagte der Bürgermeister. Jemand aus dem Publikum rief: "Das ist ja auch in Ordnung, aber es muss sinnvoll sein!"
Zweifel an der Sinnhaftigkeit äußerte auch eine junge Frau, die sich auf Erfahrungen in ihrer Heimatstadt Münster berief, wo insgesamt im Straßenverkehr eine andere Atmosphäre herrsche. Als sie nach Gießen gekommen sei, sei sie erschrocken gewesen über die Aggressivität, die sie hier auf den Straßen angetroffen habe, gerade gegenüber Radfahrern. Schon nach wenigen Tagen habe sie sich einen Helm gekauft, den sie in Münster nicht für nötig gehalten habe. Ob man sich vonseiten der Stadt mal überlegt habe, sich um eine andere Kultur des Straßenverkehrs zu bemühen? Die junge Frau erhielt den stärksten Beifall des Abends.
Auch wenn Rücksichtnahme und Empathie sich nicht dekretieren lassen, scheint mir der Hinweis der jungen Frau etwas Wichtiges zu benennen. Es müsste letztlich um eine Befriedung des Krieges gehen, der im Straßenverkehr tobt. In den SUVs, die ja rollende Festungen sind, hat dieser Krieg die ihm gemäßen Fahrzeuge hervorgebracht. Was nützen einem ein paar hundert Meter befriedete Fahrradstraße, wenn man dann auf dem Anlagenring wieder in eine Zone eintaucht, in der das Recht des Stärkeren und die pure Aggression herrschen?
Was bei den ganzen Debatten um eine Verkehrswende zu wenig berücksichtigt wird, ist die sozialpsychologische Funktion des Automobils. Menschen, die die ganze Woche über eine entfremdete und geisttötende Arbeit verrichten müssen, setzen sich abends und am Wochenende ans Steuer einer mächtigen Maschine, die ihrer Kontrolle unterliegt. Das Gaspedal ist der einzige Hebel, den sie betätigen können. Wenn die von den Verhältnissen erzeugte Aggressivität nicht in der Geschwindigkeit und der Stärke des Motors ein Ventil fände, würden die Leute auf ihren Aggressionen sitzen bleiben.
Eines Tages könnten sich diese gegen die herrschenden Gewalten richten. Das ist einer der Gründe, warum diese Gesellschaft so verbissen am motorisierten Individualverkehr festhält. Eine befriedete und versöhnte Gesellschaft, die den sozialdarwinistischen Konkurrenzkampf überwunden und Freundlichkeit zum vorherrschenden Kommunikationsstil erhoben hätte, fände im Fahrrad das ihr gemäße "konviviale" Fortbewegungsmittel. "Konvivial" nannte Ivan Illich technische Hilfsmittel, die vernünftigen Wachstumsbeschränkungen unterliegen. Das Fahrrad ermöglicht eine aus eigener Kraft betriebene Mobilität, die darin zugleich ihre Begrenzung findet.
Solange wir nicht in einer solchen Gesellschaft leben, sondern in einem nur notdürftig übertünchten Kriegszustand, werden wir mit Palliativen leben müssen, die den Wahnsinn hier und da ein wenig eindämmen. Das Projekt Fahrradstraßen erinnert an die staatlich geförderte Praxis von Landwirten, ihre mit Glyphosat besprühten Felder mit einem schmalen Streifen von Ringel- und Sonnenblumen zu umgeben.
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Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er war rund drei Jahrzehnte als Gefängnispsychologe tätig. Eisenberg arbeitet an einer "Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus", deren dritter Band unter dem Titel "Zwischen Anarchismus und Populismus" 2018 im Verlag Wolfgang Polkowski in Gießen erschienen ist. Foto: Archiv