»Nach außen alt, nach innen jung«

Die Kfz-Innung Oberhessen feierte auf Burg Gleiberg ihr 100-jähriges Bestehen nach.
Wettenberg (wf). Die Innung des Kraftfahrzeuggewerbes Oberhessen, kurz Kfz-Innung, ist zumindest in zweifacher Hinsicht schon etwas Besonderes. Zum einen ist sie mit ihren mehr als 350 Mitgliedsbetrieben, davon knapp 300 »ordentliche«, die größte im Bundesland Hessen und zum anderen, 1921 gegründet, die mit inzwischen 101 Jahren älteste im Bereich der »alten« Bunderepublik Deutschland. Nur die Kfz-Innung Dresden ist noch drei Jahre älter.
Der Rittersaal der Burg Gleiberg erlebte die große Jubiläumsveranstaltung der Kfz-Innung zum 100. Geburtstag, wenn auch, Corona geschuldet, im 101. Jahr ihres Bestehens. Dieses besondere Ereignis ließ sich auch der Präsident des Zentralverbandes Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) mit Sitz in Bonn, Jürgen Karpinski (Frankfurt) - er ist zugleich Präsident des Landesverbandes Hessen und Landesinnungsmeister - nicht entgehen. Er wurde von Gießens Obermeister Carsten Müller (Lich) ebenso als Ehrengast begrüßt wie Stefan Füll, Präsident sowohl der Handwerkskammer Wiesbaden als auch des Hessischen Handwerkstages, der Gießener Kreishandwerksmeister Kay-Achim Becker, Landrätin Anita Schneider sowie die Professoren Olaf Berger (Gießen) und Hannes Brachat (München), die beide mit Wortbeiträgen die Jubiläumsfeier bereicherten. Nicht zuletzt Michael Kraft, Vizepräsident des Landesverbandes Hessen, Vorstandsmitglied und Schatzmeister im ZDK sowie zugleich Mitglied der Jubiläumsinnung Gießen und in deren Vorstand aktiv.
Die Gründungsversammlung der Kfz-Innung Oberhessen, mittlerweile auch eine »Körperschaft des öffentlichen Rechts«, deren Einzugsgebiet die Landkreise Gießen, Vogelsberg und Wetterau umfasst und die organisatorisch mit ihrer hauptamtlichen Geschäftsführung bei der Kreishandwerkerschaft Gießen als Teil einer Handwerksfamilie von 21 Innungen angebunden ist, fand am 21. Februar 1921 im »Pfälzer Hof« in Gießen statt. Gründungsväter waren Ernst Assmann, Otto Göbel und Adam Kircher. Sie erkannten die Notwendigkeit und die Vorteile, in einem damals noch jungen Gewerbe gemeinsame Interessen gemeinschaftlich zu vertreten. Daraus ist - bis heute - eine starke Branchenorganisation namens Kfz-Innung Oberhessen erwachsen.
ZDK-Präsident Karpinski lobte die Jubiläumsinnung Oberhessen in seinem Grußwort als »stabile Säule des Hauses Deutsches Kfz-Gewerbe« und bezeichnete die Institution Innung als »wichtigstes Bindeglied zu den Firmen vor Ort«. Um dann »qua Amt« politisch zu werden. Der Forderung nach einem Tempolimit erteilte er eine Absage. Auf 97 Prozent aller Überlandstraßen gelte heute schon die Richtgeschwindigkeit 130. Diskussionsthema von Zeitungen, Politik und vor allem Ideologen seien also die restlichen drei Prozent. Dabei liege die auf deutschen Autobahnen durchschnittlich gefahrene Geschwindigkeit laut Erhebungen ohnehin bei lediglich 117 km/h. Die behauptete übergroße Umweltbelastung, die vom Kfz angeblich ausgehe, treffe ebenfalls nicht zu.
Studien belegten einen Anteil des Pkw von nur zwei Prozent am gesamten CO2-Ausstoß. »Bitte an Fakten halten: der Verbrenner ist nicht schlecht«, so Karpinski,
Er forderte eine Versachlichung der Diskussion ums Automobil und sprach sich namens des Zentralverbandes für Technologieoffenheit aus. Alternative Kraftstoffe müssten ebenso gefördert werden wie die Elektro-Mobilität. Fest stehe jedenfalls: »Die Menschen wollen ihr Auto.« Und das vor dem Hintergrund, dass das Kfz-Gewerbe das Rückgrat der deutschen Industrie sei.
Die Gießener Landrätin Anita Schneider erntete viel Beifall für ihre in den Ohren der Kfz-Branche bemerkenswerten An- und Einsichten. Sie plädierte klar für »Offenheit gegenüber möglichen Antriebsvarianten« und nannte es »falsch«, sich schon heute ausschließlich auf die E-Mobilität festzulegen. Diese habe auch Nachteile, die wiederum durch andere Technologien, zum Beispiel der Wasserstofftechnik, ausgeglichen werden könnten. »Der Landkreis Gießen soll Wasserstoff-Region werden«, kündigte Schneider an und sprach sich zudem dafür aus, »parallel die Alternativen weiterzuentwickeln«. Angesichts ihres Alters bescheinigte sie der Kfz-Innung Oberhessen: »Nach außen alt, nach innen jung.«
Während Prof. Olaf Berger von der THM Gießen die Frage, ob Wasserstoff ein Schlüsselelement für eine nachhaltige Mobilität oder ein teurer Irrweg sei, nicht eindeutig beantworten wollte, führt laut Prof. Hannes Brachat »angesichts der Realität heute« kein Weg an einer Reduzierung des Verkehrs- und somit des Fahrzeugaufkommens vorbei.
Brachat ist Herausgeber der in München erscheinenden Fachzeitschrift »Autohaus«. Und aus Sympathie und Dank für die älteste Kfz-Innung Deutschlands unterzog er sich der angenehmen Pflicht, deren 77 Seiten starke, faktenreiche und ansehnliche Jubiläumsfestschrift zu verfassen. Brachat plädierte für mehr Zusammenschlüsse von Innungen, um sie dadurch zu stärken. Innungsmitgliedschaft beruhe auf Freiwilligkeit, was ein großer Vorteil besonders im Blick auf die Notwendigkeit ehrenamtlichen Engagements sei, ohne das wiederum eine Innung nicht leben und arbeiten könne.
Am Ende seines ebenso launigen wie fachkundigen und an vielen Stellen gar aufrüttelnden Vortrags kam Hannes Brachat zu dem Schluss, »dass wir alle in Sachen Auto eine gute Zukunft haben - allerdings wird sich das Auto ändern«. Und der Jubiläumsinnung Oberhessen legte er ans Herz: »Halten Sie die nächsten 100 Jahre das Innungsflämmchen am Leuchten.«
