Aberglaube, Handkäs´ und 1982

Wer kennt das nicht? Wenn die Lieblingsmannnschaft aufläuft, wird das alte Trikot solange getragen, bis die Siegesserie reißt oder die Frau mit der Scheidung droht. Lang lebe der Aberglaube. Und der lebt vor dem Finale der Europa League bei den Fans der Frankfurter Eintracht so richtig auf. Andere wiederum schwelgen in Erinnerungen oder verarbeiten ihre Kindheit.
So lassen sich zumindest die Texte unserer Redakteure zum großen Spiel am Mittwochabend deuten.
Aberglaube
Aberglaube und Fußball gehören zusammen wie Holzhammer und Methode, Kommissar und Zufall. Ohne Wenn und Aber soll der Glaube ja Berge versetzen können oder, was noch unwahrscheinlicher ist, Eintracht Frankfurt in das Finale der Europa League. Mein Fußball-Aberglaube stellt mich nun allerdings vor ein Dilemma: Denn es begab sich einst ein Eintracht-Heimspiel in Barcelona. (Frankfurtfans versetzen lieber Städte, weil auf Bergen kaum Fußball gespielt wird.)
In Barcelona geschah ein weißes Wunder, bei dem ich die erste Halbzeit nicht sehen konnte. So setzte sich in mir der im Nachhinein betrachtet selten dämliche Aberglaube fest, dass es im Halbfinale zwei weitere Wunder geben könnte, wenn ich wieder die jeweils ersten Hälften der Spiele versäumen würde. Vielleicht kam erschwerend hinzu, dass ich meine über Jahrzehnte geschundenen Eintrachtfan-Nerven zumindest für eine Halbzeit schonen wollte.
Wie dem auch sei, die abergläubische Taktik ging auf und führte direkt zu zwei West-Ham-Wundern, die ich nur teilweise gesehen habe.
Das Endspiel gegen die Glasgow Rangers will ich jedoch gerne in voller Länge anschauen. Da ist es also - das Dilemma. Ich möchte vom Aberglauben abfallen. Als Hobbypsychologe rede ich mir ein, dass ich mit meinem seltsamen Verhalten bloß Einfluss auf etwas nehmen möchte, dem ich machtlos gegenüber stehe. Dummerweise glaube ich mir selbst nicht und verfluche zugleich meinen Aberglauben. Hätte der sich nicht etwas weniger Invasives aussuchen können? Die gleichen Kleidungsstücke bei jedem Spiel zum Beispiel? Meinetwegen auch ungewaschen. Was ist schon ein bisschen Gestank gegen den Gewinn des Europapokals?
Wie könnte ich den Fußballgott gnädig stimmen? Gibt es einen Ablasshandel für sündige Abergläubige? Sollte das Finale für die Eintracht verloren gehen, während ich dies komplett mit angesehen habe, wird jedenfalls irgendwer büßen müssen und der sollte nicht ich sein. So ist es nun einmal Tradition bei den Abergläubigen. Wo ist ein Andersabergläubiger, wenn man ihn braucht? Uwe Weichsel
Himmel und Hölle
Zugegeben: Mit Eintracht Frankfurt hatte ich lange Zeit nichts am Hut. Als die SGE 1980 gegen Borussia Mönchengladbach den UEFA-Cup holte, war ich noch Quark im Schaufenster. Als Jay-Jay Okocha den jungen Oli Kahn schwindelig spielte, war ich gerade erst vier Jahre alt. Erst Jan Åge Fjørtofts Übersteiger gegen Andreas Reinke machte die Eintracht für mich das erste Mal so richtig präsent. Als gebürtiger Dresdner und eingefleischter Dynamo-Fan waren die Adlerträger - zu meiner Jugendzeit immerhin entweder im grauen Bundesliga-Mittelfeld oder im Fahrstuhl unterwegs - aber auch lange Zeit alles andere als ein Club mit besonderer Attraktivität.
So dürfte es wohl vielen Menschen meiner Generation gehen, die im deutschen Fußball eigentlich nur einen Topclub kennen. Denn so richtig sexy ist die Eintracht für Außenstehende zugegebenermaßen erst seit wenigen Jahren - mit dem Gewinn des DFB-Pokals und den magischen Europapokal-Reisen.
Und genau das ist es, was die SGE gerade so besonders macht: Sie war lange Zeit in vielerlei Hinsicht abgehängt, am Boden der eigenen Historie, scheiterte oft an den eigenen Ansprüchen. Doch, wie es manchmal so im Leben ist, muss man erst ganz unten sein, um oben bestehen zu können.
Nur so lassen sich die Momente an der Spitze umso intensiver erleben. Nur so wird selbst ein Heimspiel gegen Royal Antwerpen zum absoluten Highlight, nur so führt eine Tour nach Barcelona zur Ekstase. Und nur so kommt man vom Himmel in die Hölle und von der Hölle ganz hin-auf. David Heinemann
Erinnerungen
Am 8. Juli des Jahres 1982 verbrannte ich mir im Estadio Ramón Sánchez Pizjuán am Beton der Stehtribüne die Oberschenkel. Ich hatte es gewagt, mich hinzusetzen. Es war kurz vor 21 Uhr, den ganzen Tag hatte die Sonne Sevilla (und das Stadion) gebraten. In Erinnerung geblieben sind gemessene 42 Grad, die sich anfühlten, als werde man gegart. Wir schwitzten das Bier in dem Moment heraus, wenn wir es gerade getrunken hatten. In Erinnerung blieben auch die neutralen Zuschauer aus Spanien, die trotz der Hitze salzige Sonnenblumenkerne knabberten und die Schalen in alle Ecken spuckten, manchmal auch in unser Bier. Irgendwann in der Nacht hatte Deutschland gegen Frankreich (nein, das war kein Foul von Schumacher an Battiston!) 5:4 nach Elfmeterschießen gewonnen.
Wir waren mittendrin statt nur dabei - für 250 Mark per Interrailticket durch Europa, für 18 Mark Eintritt im Pizjuán, das kochte vor Hitze und Überschwang. Das WM-Halbfinale ging als Jahrhundertspiel in die Geschichte ein. Auf dem weit ausladenden Platz vor dem Stadion tanzten und sangen deutsche Fans. Exakt 40 Jahre später ist das Estadio Ramón Sánchez Pizjuán, umgebaut und aufgepeppt, wieder Schauplatz deutscher Fußballgeschichte. 50 000 Frankfurt-Fans und noch mehr Anhänger von Glasgow sorgen in Sevilla für eine weitere heiße Nacht. Wer dabei sein kann als Fan, der wird sich in vielen Jahren auch daran erinnern. Wie es war, damals im Pizjuán. Als die Eintracht im Elfmeterschießen unterlag. Für 600 Euro Flug. Und das ohne Ticket. Oder... Rüdiger Dittrich
Vom Saulus zum Adler
Auch auf die Gefahr hin, mich beim Leser unbeliebt zu machen: Ich hasse die Eintracht! Das heißt: Ich habe sie gehasst. Dafür hatte ich allerdings auch gute Gründe und ein Trauma. Lange bevor das Wort »Ultra« Einzug in die deutsche Sprache hielt, machte ich gleich bei meinem ersten (Wald)Stadionbesuch Bekanntschaft mit einem SGE-Neandertaler. Weil ich unverzeihlicherweise beim Heimspiel gegen Köln mein Idol Wolfgang Overath lautstark anfeuerte, warf der Troglodyt erst ein Messer nach mir und konnte anschließend nur mit knapper Not von seinen etwas nüchternen Kumpanen daran gehindert werden, übers Absperrgitter zu klettern, um sich auf mich zu stürzen.
Funfact am Rande: Ich war damals acht. Das hinterlässt Spuren. Eigentlich ist mein Verhältnis zur SGE also unrettbar zerrüttet, eigentlich. Aber eine Mannschaft, die Barcelona in deren eigenem Stadion weghaut, eine Elf, die immer wieder in Europas Stadionschüsseln fällt wie Obelix in den Zaubertrank, die schafft stets das Unmögliche.
Und so schmolz das Packeis meines Eintracht-Ekels mit jedem ins Eck gehämmerten Tor von Knauff und mit jeder Glanztat Hintereggers. »Wie, du guckst schon wieder Frankfurt?« Klappe! Noch fünf Minuten, die packen das, die packen das!« Manchmal noch wundere ich mich dann über mich selbst. Aber spätestens mit dem Schlusspfiff und der Platzerstürmung der Welle in weiß ist das vorbei und es bleibt schiere Euphorie. Und deshalb kann es heute Abend auch nur einen geben. Nur die SGE! Nur die SGE !!!
Ingo Berghöfer
Tickets
Früher ging man, wenn am Wochenende das Stadion zum Ausflugsziel werden sollte, an den Schalter und kaufte ein Ticket. Wer wie der Autor dieser Zeilen in den 80ern das Privileg des Vorzugspreises hatte, legte damals 5 Mark auf den Kassentisch und bekam dafür einen perforierten Abrisszettel von einer langen Rolle, wie es ihn auch am Kinoschalter gab. Danach war man dann drin im Stadionareal und stellte sich irgendwo hin, wo Platz war. Und Platz gab es meist reichlich. Doch die Zeiten haben sich geändert.
Nun hat das halbe Hessenland beschlossen, einen Abstecher nach Andalusien zu machen, weil das Spiel des Jahrzehnts, ach was, des Jahrhunderts ansteht. Der Autor dieser Zeilen übrigens auch. Und was soll ich sagen: Es bedurfte einer Dauerkarte, einer Vereinsmitgliedschaft und einigen Glücks, um sich den Traum vom Endspiel vor Ort zu erfüllen. Doch das ist noch nicht alles. Ebenso nötig war eine digitale Akkreditierung bei der Uefa sowie eine eigens aufs eigene Handy zu ladende Uefa-App, an die das digitale Ticket verschickt wird.
Zwischenzeitlich riss darob übrigens die Verbindung zu meinem App-Store ab. So kamen noch mehrere nächtliche Stunden vor dem Rechner, zwei Besuche im Handyshop meines Vertrauens sowie ein harter Strapaziertest der Nerven hinzu, wo früher eine billige Papierticketrolle am Ticketschalter war. Gestern zu später Stunde lief das heiß ersehnte digitale Ding nun endlich ein und der aufgepeitschte Puls kam wieder ein wenig zur Ruhe. Mit der es spätestens morgen wieder vorbei ist. Wer weiß schon, ob der Akku ausreicht Björn Gauges
Vorbereitung
Es ist eine sportwissenschaftliche Erkenntnis, die man gar nicht oft genug wiederholen kann: Wer ein Finale gewinnen will, muss genau drei Dinge beherzigen. Ersten muss das Training exakt auf den Endspieltag ausgerichtet sein. Zweitens benötigen die Spieler das psychologische Rüstzeug, um in jeder einzelnen Situation überlegen zu sein. Und drittens gilt es, eine Taktik zu erstellen, die die Stärken des eigenen Teams entscheidend zur Geltung bringt. So weit, so einfach. Die Probleme liegen in den Details. Um es an einem einfachen Beispiel zu erklären: Welcher der Zuschauer in der heimatlichen Eintracht-Garage sollte wielange vor dem Anpfiff möglichst kein Bier trinken, um in der nervenzerfetzenden Schlussphase dann zwei trinken zu können? Und wer benötigt welchen psychologischen Kniff, um auch bei einem 0:3-Rückstand nicht in mittelhessische Nörgelei zu verfallen? Vor allem aber, wer erhält nach fünf Schoppen Redeverbot, weil er alles besser und das vor allem als der Trainer weiß?
Während dieses Finales spielen also viele gruppendynamische Aspekte unter der Schar der Mitgucker, die zuvor auch Mitesser waren, eine Rolle. Zunächst jedoch ist es in Gedenken an unsere Vorfahren aus den Steinzeithöhlen absolut unabdingbar, das Blut seines Feindes zu trinken. Aber auch hier ist Vorsicht die Mutter der Spirituosenkiste. Sollte der schottische Whisky mit oder ohne Eis serviert werden?
Um den Gegner schließlich seiner eigenen Stärken zu berauben, gilt insgesamt für den Finalabend das Motto: Gegenüber den Gästen bei Speis‹ und Trank derart geizen, dass sogar der gemeine Schotte vor Neid erblasst. Sauerkraut ohne Rippchen und Handkäs ohne Musik drängen sich in diesem Fall regelrecht auf. Nur wer all diese Details beherzigt, steht dem Frankfurter Sieg nicht im Wege.
Karsten Zipp




