Als alles verloren scheint, kommt der Held

Gießen. Am Ende eines denkwürdigen Abends sitzt keiner mehr in der Osthalle. Keiner kann mehr ruhig auf seinem Stuhl hocken. Keiner kann diese Dramatik noch schweigend ertragen. Es wird gejohlt. Es wird gejubelt. Es wird nochmal kurz vor Verzweiflung gestöhnt. Doch dann, als schließlich dieser Thriller vorüber ist, als ein wahres Husarenstück vollbracht ist, singen 3000 Fans voller Inbrunst:
»Ihr seid alle Gießener Jungs.« Und diese Gießener Jungs, diese Basketballer der 46ers, haben ein Spiel gewonnen, das nach sportlichem Ermessen nicht zu gewinnen ist. Diese Gießener Jungs haben den haushohen Favoriten von Rasta Vechta im zweiten Spiel der Halbfinalserie der ProA mit 79:76 40:38) in die Knie gezwungen. Was wiederum einem sportlichen Wunder so nahe kommt, wie es sich ein Fünfjähriger von Weihnachtsmann, Christkind, Nikolaus und Osterhase höchstens gemeinsam erträumen kann.
Und als alles vorbei ist, sitzt 46ers-Coach Frenki Ignjatovic auf dem Pressepodium, schüttelt leicht den Kopf und sagt: »Ich habe diese Mannschaft schon oft gelobt. Aber das Spiel heute hat alles übertroffen.« Alles an Moral, Kampfgeist und Spannung.
Nun steht es 1:1 in der Serie. Nun darf Vechta grübeln. Nun kann Gießen am Mittwoch beim Hauptrunden-Meister befreit aufspielen, ehe es am Freitag zum zweiten Heimspiel kommt. Zur zweiten Gesangseinlage in der Osthalle, die an diesem Sonntag tatsächlich zur Osthölle der Rastafari geworden ist.
Doch gehen wir zurück zu diesem ereignis- und gesangsreichem Abend: »Hier regiert der MTV«, schallt es aus 3000 Kehlen den Aufstiegsanwärtern entgegen. Hier regiert der Wahnsinn, trifft es besser. Der krasse Außenseiter aus Gießen bringt den großen Favoriten in den ersten zwei Vierteln bereits an den Rand des Abgrunds.
Gießen 46ers - Rasta Vechta 79:76
Obwohl den 46ers mit Stefan Fundic und Enosch Wolf zwei der wichtigsten Spieler unter den Körben fehlen, liefert das personelle Notensemble der Starauswahl aus Niedersachsen einen Kampf, der sich nicht nur sehen lassen kann, sondern teils auch die Gäste derart blendet, dass sie nie zu ihrem gefürchteten Rhythmus finden. Auf jeden Ball stürzen sich teils zwei der Roten. Da die Zone unter den Körben gegen die Gullivers aus Vechta für die fast schon centerlosen Osthöllen-Lilliputaner zur Tabuzone gerät, wird halt von Außen geworfen. Nein, von Außen gezaubert. Jordan Barnes nimmt sich gleich zwei astreine Dreier-Würfe. Gießen führt mit 25:20 erstmals im zweiten Viertel deutlicher. Die Halle tobt, die Halle kocht, die Halle brodelt. Und die Fans singen auf den Nervensträngen der Gäste. Diese zeigen Wirkung. Tajuan Agee legt sich mit den Anhängern auf der Stehtribüne an. Und die sagen Danke für die Dummheit und singen noch lauter. Doch die 46ers können sich nicht absetzen. Zwar feiern Barnes, Nico Brauner, aber auch Justin Martin ein wahres Dreierfestival und Luis Figge rennt ein ums andere Mal wild entschlossen gen Korb, doch nicht jeder Wurf sitzt, nicht jeder 46ers-Wunsch geht in den ersten zwei Vierteln in Erfüllung.
Denn Vechta nutzt jede noch so kleine Schwäche des Außenseiters so gnadenlos aus wie der miese Schurke mit dem schwarzen Hut in »Spiel mir das Lied vom Tod«. Und als die Schiedsrichter gar mit dem Pausenpfiff auch noch dem erbosten 46ers-Coach ein technisches Foul und der Bank gleich noch eins aufbrummen, wird den Fans Angst und Bange um die Gießener. 40:39 heißt die Führung. Doch die Frage ist: Reicht die Kraft der kleinen tapferen Schar? Kann es für diese glorreichen Sieben gegen die Übermacht der Gäste an Spielern und Kraft wirklich reichen? Nein, und nochmals nein, lautet die Antwort in den folgenden Vierteln.
Noch retten die Barnes und Co. ihren Minimalvorsprung dank der Dreier beim 61:59 bis zur nächsten Viertelpause. Doch die Gießener Jungs wirken ob der Dauerbelastung allmählich wie die Gießener müden Männer. Vechta wechselt munter durch, hat natürlich die Hoheit unter den Körben und arbeitet in der Defense beinhart.
Als sieben Minuten vor Schluss Robin Lodgers einen Dreier versenkt, Rasta mit 69:64 in Führung geht und Jordan Barnes fast schon humpelnd zur Bank schleicht, setzt wohl kaum noch ein neutraler Zuschauer auch nur ein Billigdosen-Bier auf die 46ers. Da auch Brauner nun sein sicheres Händchen eingebüßt hat und Vorkämpfer Igor Cvorovic ebenfalls übelst schnauft, spricht nichts, aber auch gar nichts mehr für Gießen. Doch die Fans peitschen die glorreichen Sieben weiter nach vorne. Der Favorit kann sich nicht absetzen und beim 74:71 für die Gäste gut eine Minute vor Schluss ist noch alles offen. Und dann kommt das, was sich ein Hollywood-Regisseur nicht schnulziger hätte einfallen lassen können. Dann kommt das, woraus man Heldengeschichten strickt und kleine Kinder schwer mit beeindruckt. Dann nämlich kommt der ganz große Auftritt des Mannes, der in Gießen fast schon aussortiert war. Dann kommt Justin Martin. Dann folgen Sekunden, über die später Gästecoach Ty Harrelson kopfschüttelnd sagen wird: »Wir haben im letzten Viertel eigentlich alles richtig gemacht. Aber dann kam Justin Martin.«Der US-Amerikaner lässt die Vechta-Übermacht bei seinem Solo so alt aussehen wie John Wayne eine ganze Gangster-Kolonne. 73.74 heißt es. Dann zieht Kevin Strangmeyer unterm eigenen Korb ein Foul und trifft beide Freiwürfe zur 75:74-Führung in einer Osthalle, die nun jede Techno-Disko mühelos an Lautstärke übertrifft.
Und als nun wirklich kein anderer Gießener noch die Kraft für einen Wurfversuch hat, versenkt Justin Martin eiskalt einen Dreier zum 78:76. Und Martin schnappt sich auch den nächsten Rebound, lässt sich gerne foulen, wirft den ersten Freiwurf unter einem Jubelorkan zum 79:76 in den Korb, um den zweiten mit Absicht und um dem Gegner keine Zeit zu gönnen, an den Ring zu knallen.
Schluss! Aus! Das Spiel ist vorbei. Doch die Party beginnt. Und als 3000 Fans schließlich »Justin Martin, Justin Martin« rufen, nein brüllen und schreien, da stehen den meisten der an diesem Abend tatsächlich glorreichen Sieben Tränen in den Augen. Spätestens in diesem Moment sind sie für die Fans Gießener Jungs geworden.
Gießen 46ers: Barnes (17), Brauner (21), Figge (7), Cvorovic (6), Martin (22), Strangmeyer (4), Nyama (2)
Rasta Vechta: Jones (11), Ferner (9), Lodders (5), Agee (4), Schwieger (10), Smit (3), Aminu (16), Flanigan (6), Bohannon (12)
Karlsruhe Lions -
Tigers Tübingen 70:83 (0:2)
Gießen 46ers -
Rasta Vechta 79:76 (1:1)
Die nächsten Spiele: Tigers Tübingen - Karlsruhe Lions (Dienstag, 19.30 Uhr), Rasta Vechta - Gießen 46ers (Mittwoch, 19.30 Uhr).