»Besser mit 35 als mit 25«

Gießen. »Wenn ich eine Versicherung abschließen wollte, bräuchte ich wohl bei den Erkrankungen statt vier Zeilen vier DINA4-Seiten.« Keine Frage: Seinen Humor hat Aykut Öztürk trotz unzähliger Verletzungen in knapp zwei Jahrzehnten nicht verloren. Und er kann für diesen Zeitraum auf starke Zahlen verweisen. 157 Drittliga-Partien hat er für den SV Wehen-Wiedbaden, Carl-Zeiß Jena, den SV Sandhausen, RW Erfurt, Jahn Regensburg und den FSV Zwickau bestritten.
Dazu gesellen sich elf Zweitliga-Matches für Wehen und fünf Einsätze in der türkischen »Süper Lig« für Sivasspor. Gleich dreimal wechselte der Angreifer in die Türkei und holte in Deutschland die Meisterschaften in der Dritten Liga (2012, mit Sandhausen) und in der Regionalliga Nordost (2016, mit Zwickau).
Nun aber, nach dreieinhalb Jahren in den Farben des FC Gießen, für dessen Vorgänger-Club VfB 1900 der gebürtige Ehringshäuser bereits in der Jugend gespielt hatte, ist Schluss. Erzwungenermaßen, der Knöchel macht bei fußballspezifischen Belastungen nach wie vor sofort Probleme. Eine Erkenntnis, die bei dem 35-Jährigen langsam aber stetig reifte, seitdem er im August des Vorjahres in der Auswärtspartie des Hessenligisten bei der U21 Eintracht Frankfurts früh verletzt ausgewechselt worden war. »Das ist sicher schmerzhaft, jedoch muss ich realistisch sein. Und besser mit 35 als mit 25«, sagt Öztürk, der seinen Vertrag vor einigen Wochen aufgelöst hat. Ganz ohne Fußball geht es bei Öztürk, der in seinem Wohnort Aßlar ein Fitnessstudio betreibt und kurz nach Weihnachten erstmals Vater geworden ist, gleichwohl nicht. Er ist als Co-Trainer beim heimischen Verbandsligisten FC TuBa Pohlheim eingestiegen. Über dieses Engagement, aber auch über den FC Gießen und seine Zeit als Fußballprofi hat er mit dieser Zeitung gesprochen.
Aykut Öztürk über ...
... Highlights und Tiefpunkte in dreieinhalb Jahren beim FC Gießen
Ein Höhepunkt war zweifellos mein 1:0-Siegtor im Hessenpokal-Viertelfinale im Dezember 2019 gegen Kickers Offenbach. Die Wochen davor waren nicht einfach gewesen, weil ich nicht im Kader gestanden hatte. Ich habe aber immer weiter trainiert und meine Chance genutzt. Mit diesem Erfolg hat es natürlich Spaß gemacht.
Haften geblieben ist auch das überraschende 3:2 beim Aufstiegskandidaten SSV Ulm im Januar 2021. Generell waren wir in dieser Saison 2020/21 als Elfter sehr erfolgreich. Der größte Tiefpunkt war sicherlich der Abstieg im letzten Jahr, da bleibt ein fader Beigeschmack. Die Sache mit den nicht beziehungsweise zu spät geleisteten Gehaltszahlungen hat natürlich eine Rolle gespielt. Wenn die Spieler bekommen, was ihnen zusteht, laufen sie verständlicherweise im Kopf befreiter auf.
Aber auch davon abgesehen wäre mehr drin gewesen. Es war auch charakterlich schwierig.
... seine große Beliebtheit bei den Zuschauern und Fans
Ich rede ungern über mich selbst. Aber ich glaube, die Leute haben gesehen, dass ich immer alles gegeben habe. Ich hatte schlechte Tage, an denen kein Schuss aufs Tor kam oder keine Flanke. Trotzdem habe ich immer versucht, alles rauszuholen. Durch Zweikämpfe, Bälle festmachen, meine Leidenschaft insgesamt. Das war früher nicht mein Stil. Vor den Verletzungen war ich wendiger, schneller und habe viel mehr die Eins-gegen-Eins-Situationen gesucht. Ich habe mir auch Zeit für die Zuschauer genommen und die bekommen dadurch auch ein Gefühl, wie einer so tickt.
... die Aussichten und Zukunft der Gießener, die als Tabellenzweiter in die Restrunde gehen
Ich denke, die U21 von Eintracht Frankfurt wird vorne wegmaschieren. Und in der Aufstiegsrelegation hat Eintracht Stadtallendorf vergangene Saison in zwei Spielen acht Gegentreffer kassiert.
Aus meiner Sicht sind die Mannschaften aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz/Saar zu stark. Ob noch ein, zwei Jahre mehr in der Hessenliga Sinn machen? Dafür kenne ich die Zahlen nicht. Grundsätzlich, ich bin ja durch mein Studio selbständiger Unternehmer, bin ich der Meinung, dass man mit Zahlen nach außen offen umgehen kann, wenn gute Arbeit geleistet wird. Abseits vom Platz wird das Bestmögliche versucht, wobei ich da schon ein bisschen Bauchschmerzen habe, wie das abläuft. Ich hoffe nicht, dass es da noch einen Knall geben wird.
... seine neue Aufgabe beim FC TuBa Pohlheim
Ich bin einfach immer noch sehr gerne auf dem Platz. Da kann ich abschalten vom Alltag. Mit Christian Memmarbachi (Anm. d. Red.: Bis Dezember 2022 Sportlicher Leiter beim FCG, in dieser Funktion auch in Pohlheim tätig) verstehe ich mich sehr gut. Er hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen kann, bei TuBa zu helfen, vielleicht im Trainerteam. Und so ist es gekommen, dass ich als Co-Trainer eingestiegen bin und im Februar im Trainingslager in Belek mit dabei war. Nicht jedem liegt der Trainerjob, ich möchte da jetzt meine Erfahrungen sammeln. Als Spieler ist es einfacher, da musst du dich mit dem Trainer auseinandersetzen. Wenn du die Rolle wechselst, hast du 20 unterschiedliche Charaktere vor dir, mit denen du auskommen musst. Das ist etwas ganz anderes.
...das »Nomadenleben« als Profi
Sollte mein Sohn etwas von meinem Talent haben, bin ich sehr gerne bereit, ihn nach Mainz, Frankfurt, Darmstadt oder Offenbach zu fahren. Wenn es dann nicht für oben reichen sollte, bin ich nicht dafür, dass er für die 3. oder 4. Liga durch ganz Deutschland tingelt. Jedes Jahr weiterziehen, weil du schnell ausgetauscht wirst. Wenn der Trainer gewechselt wird oder er einfach nicht auf deinen Spielstil steht. Das ist letztlich nicht das, was sich viele vorstellen. In jungen Jahren ist das zwar gut verdientes Geld, aber viele verpassen in der Zeit auch, sich ein zweites Standbein aufzubauen. Außerdem kannst du nicht bei der Familie sein. Ich habe beispielsweise meine Neffen und Nichten kaum aufwachsen sehen.
... seine Erfahrungen in der Türkei
Als ich zum ersten Mal in der Türkei gespielt habe, war es schwierig, bei zweiten Mal besser und beim dritten Mal war ich gelassen. In der Türkei war ich der Deutsch-Türke, ein Ausländer. Da wirst du schon ganz anders begrüßt. Zudem bekamen die türkischen Spieler türkische Lira, hatten dazu stark leistungsbezogene Verträge. Neuzugänge aus dem Ausland dagegen erhielten ihr Gehalt in Euro, was dann natürlich zu viel Neid geführt hat. Da hat es auf dem Platz nicht nur »geknallt«, das war schon noch einmal eine Steigerung dazu.
... seinen Trainer bei Sivasspor, der als Spieler »um die Ecke« schießen konnte: Roberto Carlos, Weltmeister mit Brasilien 2002
Die erste Begegnung werde ich nie vergessen. Roberto Carlos kam im Internat des Clubs aus dem Essenssaal und hat zur Begrüßung gesagt: »Willkommen, hab‹ Spaß hier. Der Rest ist ein Selbstläufer.« Seine Freistoßkünste hat er nach dem Training öfter gezeigt. Da hat man schon klar gesehen, dass er es noch drauf hatte.
Ich erinnere mich an ein Spiel besonders. Hinter mir spielte auf meiner Seite Cicinho - ein Superspieler und damals auch Vorlagenkönig. In diesem Spiel aber war er ein Totalausfall, wir verloren mit 2:6. Roberto Carlos kam danach zu mir, klopfte mir auf die Schulter und meinte: »Solche Tage gibt es eben.« Er war sehr menschlich.