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Der FC Gießen ist die große Wundertüte

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Gruppenbild mit vielen Unbekannten - der FC Gießen vor dem Start in die Hessenliga, Foto: FCG/Magel © FCG/Magel

Viele Abgänge, genauso viele Neuzugänge: Regionalliga-Absteiger FC Gießen geht mit einem neu formiertem Team an den Start. Zu Beginn wartet das Derby beim SC Waldgirmes.

Gießen . Über dem Büro des FC Gießen hängt an diesem Freitagnachmittag noch das Schild »Fußball Zuhause« und der Zusatz »Regionalliga Südwest«. Zuhause sind sie noch im Waldstadion, allerdings eine Etage tiefer in der Hessenliga. Das Alleinstellungsmerkmal des ehedem mit großen Ambitionen aus der Watzenborner und VfB-Taufe gehobenen Vereins ist dahin, man muss wieder kleinere Brötchen backen, in der gleichen Backstube wie der FSV Fernwald oder auch der SC Waldgirmes.

Mit Daniyel Cimen, das ist nach dem eineinhalbstündigen Gespräch gewiss, haben sie aber weiterhin den richtigen Bäckermeister, denn dem 37-Jährigen, der im September das fünfjährige Jubiläum als Gießener Trainer begeht, ist die Backstube zwar nicht egal, aber er besitzt die entsprechende fachliche Qualifikation und vor allem das (sich) selbstbewusste Gemüt, feine Torten ebenso zu schätzen wie ein Blech voller Semmeln.

Cimen will, so oder so, stets das Beste daraus machen. Und ohne seinen integrativen Ansatz und seinen unaufgeregten Charakter hätte der Laden vermutlich schon dichtmachen können. Wenn sich die fußballaffine Gießener Öffentlichkeit wundert, warum er noch da ist nach den Turbulenzen in einem weiter per Notvorstand regierten Verein, dann darf man einerseits zwar auch auf den noch bis 30. Juni 2023 geltenden (dem Vernehmen nach gut dotierten) Vertrag hinweisen, andererseits auch auf seine ganz persönlichen Eigenschaften: Denn Cimen ist es nicht zu mühselig, den gefühlt fünften Neuanfang anzugehen, sondern er sieht in jeder Lebenslage auch eine Chance, »wieder was aufzubauen«, auch wenn er im Hinblick auf die anstehende Saison sagt, er könne verstehen, »wenn Leute draußen das Wort Neuanfang nicht mehr hören können«.

Auch er selbst hätte es lieber gesehen, »wenn wir mehr Jungs aus der Region hätten holen können, klar, Identifikation spielt immer auch eine Rolle, aber als wir angefangen haben, unseren Kader zusammenzustellen, waren die anderen Vereine schon fast fertig«. Denn natürlich hat Daniyel Cimen nach dem bitteren Abstieg aus der Regionalliga Südwest auch überlegt, »ob und wie es mit mir weitergeht«. Der Ex-Profi hatte Angebote aus der vierten Liga, und auch insgesamt sei die Zukunft des Vereins ja nicht ganz klar gewesen, aber ihm sei schon auch wichtig, »einmal darauf hinzuweisen, dass Notvorstand Turgay Schmidt »alles in seiner Macht stehende unternimmt, um den Verein aufrechtzuerhalten«.

Bei aller Kritik an ihm, werde das oft vergessen. »Man darf nicht unterschlagen, dass in den letzten Wochen schon einiges Gute drumherum passiert ist.« Er, Cimen, sehe den Verein auf einem guten Weg zur Konsolidierung.

Eigentlich aber spricht der ehemalige Frankfurter lieber über den Bereich seiner Kernkompetenz, der Zusammenstellung einer hessenligatauglichen Mannschaft, der er »den Fußball, den wir spielen wollen«, noch implementieren will. Und was ist das für ein Fußball? »Ein dominanter, ein attraktiver, nach vorne ausgerichtet«, sagt Cimen, der natürlich weiß, dass das Gießener Publikum erobert, überzeugt und mitgenommen werden muss.

Das geht angesichts eines Kaders, der zu großen Teilen aus der Rhein-Main-Region rekrutiert wurde, sicher nicht ganz so einfach. »Ich hätte mir auch gewünscht, dass wir mehr unserer Spieler hätten halten können«, sagt der FC-Trainer, der deshalb »auch die Jungs aus der eigenen Jugend schon mal im Training heranführt, auf dass der ein oder andere seine Chance nutzen kann«.

Und dann sind da ja noch Aykut Öztürk und Michael Fink, qua ihrer professionellen Herangehensweise und trotz gesetzteren Alters immer noch Leistungs- und vor allem Sympathieträger des Vereins. Dass der mit höchsten Meriten ausgestattete Fink, 40 Jahre jung, noch spielen würde, war nicht zu erwarten. Seine Aussage Mitte der vergangenen Runde schien eindeutig: In Gießen wolle er nur in der Regionalliga weiterspielen. Momentan ist er aber wieder »voll dabei in der Vorbereitung«. Als beste Freunde mögen sich Cimen/Fink gegenseitig im Weitermachen bestärkt haben, wobei Cimen sagt, »dass, wenn Micha etwas angeht, er es dann auch professionell durchzieht, aber es kann schon sein, dass er sich nach und nach zurückzieht im Laufe der Runde«.

Zumindest habe er zugesagt, für den Notfall würde er es noch machen. »Ich versuche ihm momentan zu vermitteln, dass es ein Dauernotfall ist.« Sagt Cimen. Und lacht. Ein wenig Überredungskunst war und ist beim ehemaligen Bundesliga-Profi also doch gefragt. Fink hin, Fink her, spricht Cimen »von einem ganz guten Gefühl«, mit dem er in die Saison gehe, weil er eine Achse »extrem erfahrener Spieler und einiger noch sehr junger hungriger« habe.

Das Fußballer-Phrasenschwein muss bei dem Begriff »wir haben eine gute Mischung« herhalten. 18 plus drei Spieler bezifferte Cimen zum Zeitpunkt des Gesprächs die Quantität des Kaders, insbesondere eine »Spitze, ein klassischer Mittelstürmer« fehle, man habe momentan vor allem schnelle und wendige Außenbahnspieler in der Offensive.

»Die Jungs machen einen sehr guten Eindruck, sehr gewillt, aber man muss angesichts des sehr zusammengewürfelten Kaders die ein oder andere Leistungsschwankung am Anfang verstehen und in Kauf nehmen.«

Dass überhaupt Spieler zum FC Gießen gelockt werden konnten, war angesichts des nicht allzu guten Rufes, nicht unbedingt zu erwarten? Oder? »Naja, es war entspannter als letztes Jahr. Wir haben schon noch den ein oder anderen Kontakt, die ein oder andere Verbindung«, weiß Cimen angesichts doch recht namhafter Verpflichtungen wie Mangafic, Pekesen oder Kireski. Die gerade eben auch deshalb kommen, weil »sie schon einen Job haben, eine Umschulung, eben gestandene Männer sind, die zumindest Übergangsweise nicht mehr professionell spielen wollen oder können«. Da kommen ihnen die Abendtrainingszeiten und kürzeren Fahrten entgegen.

Unsicher ist Daniyel Cimen indes, was die Aussichten seiner Mannschaft in der Hessenliga sein könnten. »Es ist schon eine Wundertüte. Vom Potenzial her glaube ich schon, dass wir vorne angreifen oder uns im vorderen Drittel etablieren können, dafür müssen wir uns aber erst einmal finden. Wie gesagt: das Niveau haben wir, aber es gibt Unwägbarkeiten«, sagt Cimen, der die neu etablierte U-Mannschaft der Frankfurter Eintracht, Bayern Alzenau, »natürlich Stadtallendorf« und »auch Fernwald traue ich eine Überraschung zu, die haben fast keine Abgänge und sich gut verstärkt«, als favorisierte Teams ansieht. Aber auch Eddersheim, RW Walldorf oder Hadamar nennt. Sorgen machen dem zweifachen Vater, der dank nun deutlich kürzerer Fahrten einerseits mehr Zeit für die Familie hat, andererseits »wegen der späten Trainingszeiten immer dann nach Hause« kommt, »wenn die Kinder schon im Bett sind«, die 20er-Liga. »Corona ist ja noch nicht vorbei«, weiß der Coach, der die Regionalliga lange Zeit unter Pandemiemodus bestreiten musste. »Da muss es definitiv klare Regeln geben. Das war alles zu unklar und ging oft zu Lasten der Gesundheit der Spieler. Und nun wird es schon wieder eine Mammutsaison.«

Daniyel Cimen würde schon dann von einer »erfolgreichen Saison sprechen, wenn es mal nur ums Sportliche geht«, sagt er einerseits, um andererseits zu betonen, dass »das rein Sportliche am Ende nicht das Allerwichtigste ist«.

Was als Widerspruch in sich erscheint, ist zu verstehen. Weniger Zirkus und Unbilden in der Außendarstellung wären angenehm, eine sportlich solide Saison, die vor allem damit enden solle, dass »die Finanzen konsolidiert sind und der Verein wieder als Verein funktioniert und wahrgenommen wird«. Dabei bestätigt Cimen, dass »wir uns auch ankreiden lassen müssen, dass wir die Jungs nicht vernünftig verabschiedet haben«. »Egal wie es auch läuft«, so Cimen, »man sollte immer vernünftig und respektvoll miteinander um- und auseinander gehen.« Und so sieht Daniyel Cimen, für den qua Lebenseinstellung das Glas stets halbvoll ist, den Abstieg »für mich als Trainer schon als Rückschritt, für den Verein aber als Chance«.

Er selbst sei »froh, dass ich das weiter hauptamtlich machen kann. Und da will ich das Beste erreichen. Man kann mir schon glauben, dass ich mittlerweile hier viel mit verbinde und in Gießen weiterhin großes Potenzial sehe, auch wenn das der eine oder andere nicht mehr hören mag«, sagt Cimen, der »kurz- bis mittelfristig in Frankfurt« seinen Fußball-Lehrer machen möchte.

Was dann kommt? »Darüber mache ich mir keine Gedanken, ich versuche immer im Hier und Jetzt zu leben, nur wenn du bei dir selbst bleibst, bleibst du auch authentisch.« Und so bleibt Daniyel Cimen mitten im nächsten Neuaufbau beim FC Gießen wie selbstverständlich an Bord, jetzt eben eine Etage tiefer in der Fußbaöö-Hessenliga, »ja, klar, da sind wir mehr auf Sportplätzen als in Stadien. Aber am Ende«, so sagt Cimen, »ist es doch immer nur Fußball.«

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Der Mann, der den Takt vorgibt: FC-Gießen-Trainer Daniyel Cimen. Foto: Ben © Ben

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