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Die Königin der Puppen

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Gießen. »Noch Lust, eine Runde zu Kickern?« Eine Frage, wie sie in den Kneipen vermutlich genauso oft gestellt wird wie die nach dem nächsten Bier. Doch aufgepasst, an wen diese Frage gerichtet ist. Wenn’s blöd läuft, steht man sonst Lilly Andres gegenüber - und dann ist eine haushohe Niederlage unausweichlich. Denn die Wahl-Gießenerin ist fünffache Weltmeisterin im Tischfußball.

Stefan Kiesling, Rudi Völler, Günter Netzer, Stefan Raab samt Praktikanten Elton - um nur einige zu nennen, die von der sympathischen 38-Jährigen im wahrsten Sinne des Wortes über den Tisch gezogen wurden.

Mit damals 19 Lenzen auf dem Buckel hat die gebürtige Mainzerin aber relativ spät die Kickerstangen in die Hände genommen. »Ganz klassisch als Hobby gegen Freunde«, wie sie heute auf die Zeit kurz nach der Jahrtausendwende zurückblickt. Hier mal ein Spielchen, da mal eine kleine Runde. So wurde aus dem Hobby schnell eine Passion, der Andres bis in die Gegenwart verfallen ist. Denn kaum in den bekannten Kneipen und Clubs Aufstellung genommen, entdeckte sie ihr Talent, das sie seit dem Jahr 2004 auch sportlich einsetzt.

Und was sie alles mit der Kugel am Kunststofffuß drauf hat, zeigen etliche Videos auf den gängigen Online-Portalen zuhauf. Kennt Otto-Normal-Zocker in der Regel nur eine Devise - nämlich volle Pulle drauf, dass die Puppen im Anschluss unter einem langanhaltenden Schleudertrauma leiden mögen -, geht Lilly Andres feinfühliger an die Sache heran. Mit Gefühl lässt sie nämlich den Ball durch die Reihen flitzen, etabliert ein Passspiel auf der stetigen Suche nach der passenden Lücke in der gegnerischen Verteidigung. »Das Schwierige ist, die Konzentration aufrecht zu halten. Es kommt darauf an, wie gut man mit Druck und Stress umgehen kann«, gibt sie einen Einblick darüber, dass im Tischfußball in erster Linie die Psyche wichtig sei. Offensiv wie defensiv spielt die Geduld eine tragende Rolle. Ein Zeitlimit, das das Führen des Balls auf den einzelnen Stangen begrenzt, sorgt für eine weitere mentale Belastung. »Ein Match kann schon mal zwischen 30 und 90 Minuten dauern«, sagt sie im Gespräch fast so, als wäre es das Normalste der Welt. Das stelle man sich einmal vor: Eineinhalb Stunden lang vollen Fokus auf die kleine Kugel. Das ringt Respekt ab. Andres indes fühlt sich dabei pudelwohl: »Umso mehr bin ich im Tunnel.«

Dieser Tunnel zeigt ihr aber auch die Welt. »Longshot-Lilly«, wie sie in der Szene genannt wird, steht rund um den Globus an sämtlichen Kickertischen. Italien, Frankreich, Spanien, China, die USA, und so weiter, und so fort. Bereits 2007 spielt sie ihre erste Weltmeisterschaft, 2009 holt sie erstmals Gold mit der Damen-Mannschaft und wiederholte diesen Coup mehrfach, dazu kommen WM-Erfolge im Doppel. Nur im Einzel sollte es bisher nicht so ganz klappen. Macht aber nichts, definiert sich die 38-Jährige ja ohnehin eher als Teamplayerin. Der Erfolg mit der Mannschaft sei wichtiger. »Das erfüllt mich am meisten«, reflektiert sie, denn - das gibt sie zu - »ich habe Schwierigkeiten, mich für mich allein zu motivieren«. Und doch, das mag ein wenig widersprüchlich klingen, hat sie ihre Stärken in der Einzeldisziplin. Sie spielt schnell ihre Gegner um den Verstand, hat eine hohe Stangenkoordination und verfügt über viel Spielverständis - das macht sie zur Idealbesetzung für die Eröffnungseinzel der Teamwettbewerbe.

Mit dem Erfolg am Tisch stellt sich auch schnell Erfolg im Beruf ein. Schon früh erkennt Lilly Andres das Eventpotenzial im Tischfußball. Sie macht sich selbstständig, tourt seitdem im europäischen Umland von einem Termin zum nächsten. Firmen, Workshops, TV-Auftritte (u.a. TV Total, ZDF Fernsehgarten, Fünf gegen Jauch) - alle wollen sie gegen die mehrfache Weltmeisterin ran, überall demonstriert sie ihr Können, gibt aber auch Tipps und Ratschläge. »Der Zugang zum Sport ist sehr leicht, man muss nicht viel können, jeder hat schon einmal gekickert.« Dass im Frühjahr 2020 Corona das öffentliche Leben lahmlegte, ging entsprechend auch an Andres, die mit dem Tischfußball ihren Lebensunterhalt bestreitet, nicht spurlos vorbei. Zwei lange Jahre Zwangspause, keine WM, keine Bundesliga, keine Turniere und keine Events. »Seitdem hat sich die Szene verändert«, muss sie sich eingestehen, »weil nicht alle Spieler zurückgekehrt sind. Sie haben gemerkt, dass ihnen der Sport nicht gefehlt hat.« Und auch bei Lilly hat es ein wenig gedauert, bis das Feuer wieder entfacht wurde. Der Grund: die sehr lange Pause. »Welchen Sinn hat ein Traning, das ich ja doch nicht anwenden konnte?«, fragt sie zurecht.

Der Traum von den fünf Ringen

Aber auch nach dem Ende der spielfreien Zeit hatte sie zunächst wenig Lust, an Turnieren teilzunehmen. Beschränkungen, etwa die Maskenpflicht, gab es schließlich noch eine ganze Weile lang. Atmen und Konzentration waren ihrer Ansicht nach kaum möglich. Erst die kürzlich im französischen Nantes ausgetragene Weltmeisterschaft sorgte für den nötigen Motivationsschub. Mit Erfolg - wieder Platz eins mit den Frauen. Die Fahnenstange soll mit dem neuerlichen Eintrag in die WM-Annalen allerdings noch längst nicht erreicht sein. Einen kleinen Traum hat Lilly dann doch noch offen, den sie sich gerne erfüllen möchte: »Olympia-Gold wäre definitiv der größte Traum, das wäre der Hammer!« Aktuell steht der Tischfußball beim IOC unter Beobachung, heißt, es wird noch die weitere Entwicklung der Sportart abgewartet. Der Traum lebt also. Es wäre nicht nur der Höhepunkt ihrer Passion, sondern auch der einer gesamten Sportart.

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Siehst Du, Rudi, so wird das gemacht - wenngleich »Tante Käthe« im Jahr 2015 in ungewohnter Rolle als Defensivallrounder glänzen muss. Foto: imago © imago

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