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Die Spaßgesellschaft im Abstiegskampf

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Wetzlar. 44 Minuten sind in der Buderus-Arena gespielt, als Lars Weissgerber zum Siebenmeter antritt. Die große Chance für die HSG Wetzlar, bei einem 17:20-Rückstand zurück ins Spiel zu finden. Die große Chance, dieses Kellerduell der Handball-Bundesliga gegen GWD Minden doch noch zum Guten zu wenden. Die große Chance, die die Fans auf der rappelvollen Stehtribüne mit lautstarken »Lars, Lars«-Rufen und Trommelwirbel begleiten.

Als Weissgerber verwirft, schrillt ein kollektives Stöhnen der Enttäuschung durchs weite Rund. Als wenig später Mohamed Darmoul zweimal ins leere Tor der Wetzlarer zur 23:18-Führung des Tabellenvorletzten trifft, herrscht gar eisiges Schweigen unter den Zuschauern. Nur die Trommler halten stoisch dagegen. Doch in diesen Minuten klingt ihr Rhythmus eher wie ein Marschtakt für den bitteren Abstiegsgang in die zweite Liga.

Eine knappe Stunde vor dem Anwurf stehen einige der Trommler vor dem Rolltor, dem Seiteneingang der Arena. Es herrscht Optimismus. Wenn auch gedämpfter. Zweckoptimismus trifft es am besten. »Das«, sagt der eine erfahrene Handballer, »wird heute kein schönes Spiel.« »Das«, stimmt sein trommelnder Kollege zu, »wird hart und es gibt mindestens zwei Rote Karten.« Und sagt dann noch die Sätze, die später, viel später, erst als die 60 bitteren Spielminuten vorüber sind, ihre ganze schlimme Brisanz entfalten werden: »Wenn wir heute verlieren, sieht es schlecht aus. Die letzten zwei Spieltage machen mir richtig Angst. Wir müssen gegen Magdeburg und Kiel ran. Und Minden hat es gegen Hannover und Gummsersbach eher leicht.«

Diese Angst müssen nun alle, aber auch wirklich alle Wetzlarer Handballer nach der 25:27-Niederlage teilen. Vor dem Anpfiff hielt die HSG den Klassenerhalt quasi in eigenen Händen. Nun aber muss man fast schon auf die Hilfe anderer hoffen.

Dabei ist die Zuversicht zuvor noch groß. »Heute«, sagt die immer freundliche Empfangsdame vor den VIP- und Presse-Räumen, »lege ich mich fest: Wir gewinnen.« Und unten auf der Platte begrüßt Hallensprecher Frank Pieroth die Zuschauer mit einem forschen: »In Stuttgart ist der Knoten bei unseren Jungs geplatzt. Auf geht’s Wetzlar!« Der Knoten, dieses vermaldeite gordische Teil, scheinen die Grün-Weißen tatsächlich beim Auswärtserfolg im Schwäbischen entwirrt zu haben. Das glauben zumindest viele. Aber mit dem Glauben ist das so eine Sache. Glaube soll Berge versetzen können. Glaube kann aber auch Irrglaube sein. Glaube kann zu Selbstüberschätzung führen. Und so gehen die Wetzlarer nicht ganz so kampfstark, nicht ganz so bissig wie gegen den Bergischen HC in der ersten Hälfte zu Werke. Und Glaube kann schnell erschüttert werden. Nach den ersten Fehlwürfen, schwindet an diesem grauen, regnerischen Abend das Selbstvertrauen. Und spätestens, als der eingewechselte Linksaußen Lukas Becher gleich zweimal hintereinander freie Würfe versemmelt, schwindet jedweder Glaube aus der Buderus-Arena.

Später muss ausgerechnet der junge Becher beim Fantalk im Foyer Rede und Antwort stehen. Gemeinsam mit Winternachverpflichtung Filip Kuzmanovski. Es gibt schönere Verpflichtungen als diese. Es folgen ein paar harmlose Fragen. Es folgen als Antworten der sichtlich Deprimierten die üblichen Durchhalteparolen. Kann man verstehen. Was man nicht verstehen muss, ist die Aufforderung des Moderators an die Fans, nun doch bitte die Nachnamen der Spieler laut mitzubrüllen. Feiern nach einem Tiefschlag? Puh. So folgt auf das auffordernde »Filip...« einfach nur Schweigen. Gut so. Schlimmer aber: Auf das »Lukas« brüllen ein paar Jungs mit Bierbechern in Händen tatsächlich quer durchs Rund: »Becher, Becher, Becher«. Dem Spieler ist anzusehen, dass er am liebsten im hinterletzten Geräteraum der Arena verschwinden möchte. Alle anderen wissen, dass Fremdschämen zum Gemeinschaftssport werden kann. Die Spaßgesellschaft im Abstiegskampf. Da fehlen nur noch die Selfis der Marke »Ich war beim Untergang dabei«.

»Seltenes Gefühl«

Ein paar Minuten später sitzt Frank Carstens auf dem kleinen Podium der Pressekonferenz. Der erfahrene Handballtrainer strahlt übers ganze Gesicht, als er sagt: »Wir haben jetzt drei Punkte in Folge geholt. Das ist ein seltenes Gefühl für uns, das wir auskosten werden.« Carstens befindet sich auf seiner Abschiedstournee. Minden trennt sich nach der Saison vom Trainer. Da stellt der Sieg in Wetzlar natürlich auch eine persönliche Genugtuung dar. Das erinnert an eine andere Abschiedstournee. An die Kai Wandschneiders, der mit Wetzlar in seiner letzten Saison spielerisch die Sterne vom Handball-Himmel holte. Später, viel später an diesem tristen Abend schreibt ein HSG-Fan auf Facebook, dass mit der Trennung von Wandschneider der Abstieg des Vereins begann. Dass sein Nachfolger Ben Matschke ein halbes Jahr lang von der wunderbar eingespielten Mannschaft profitiert hat, ehe der Zerfall begann. Das muss man so nicht sehen. Man kann es so sehen. Aber an diesem Abend spricht alles dafür, dass diese Sicht der Dinge einer sportlichen Wahrheit am Nächsten kommt.

Als sich die Halle dann fast gelehrt hat, stehen die Trommler draußen im Regen. Alle schütteln die Köpfe. »Jetzt braucht uns die Mannschaft noch mehr«, sagt schließlich einer der Fans mit gedämpfter Stimme. Optimismus klingt anders. Optimismus klingt derzeit in Wetzlar wie der Name einer Kirche in Südsizilien. Optimismus liegt ganz weit weg.

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